Aus „Bildung 4.0 – Eine Vision für den systemischen Wandel“, von Madita Hänsch
Im Verlauf dieses Buchs wurde bereits mehrfach wiederholt, dass sich die Lernraumgestaltung und die inhaltlichen Schwerpunkte in diesen Lernräumen radikal verändern müssen, indem sie nicht länger nach Standardisierung und messbarer Vergleichbarkeit und ergebnisorientiert sind, sondern bedürfnisorientiert, würdevoll und prozessbegleitend werden. Damit einher geht die Notwendigkeit zur Änderung der Prüfungskultur. Nicht nur der bereits empfohlene Abschied der Notengebung ist erforderlich, sondern auch die Formate von Prüfungen.
Das Institut für zeitgemäße Prüfungskultur bietet bereits einen solchen neuen Ansatz an:
Zeitgemäße Bildung antwortet auf die Herausforderungen der digitalen Gegenwart mit einer Lernkultur, die auf selbstwirksames Lernen sowie persönliche Entwicklung und Gemeinschaftlichkeit abzielt. Bedingung für die Akzeptanz und das Gelingen dieser Lernkultur ist, dass mit ihr eine Öffnung der Prüfungskultur einhergeht.
Institut für zeitgemäße Prüfungskultur (pruefungskultur.de) [22.03.2024]
Das Institut für zeitgemäße Prüfungskultur schafft einen Rahmen, um diesen Veränderungsprozess verantwortungsvoll mitzugestalten: Wir wollen Expertise bündeln, Diskussionen anregen, Umdenken bewirken, die Entwicklung zeitgemäßer Prüfungsformate und sinngebender Formen der Leistungserfassung erproben und begleiten.
Ziel ist eine lernförderliche Prüfungskultur, die auch auf rechtlicher Ebene eine Verankerung findet, damit sie in der Breite der Bildungsinstitutionen rechtssicher verwirklicht werden kann. Uns selbst betrachten wir als lernende, vernetzte und beratende Organisation, die an der gemeinsamen Sache orientiert zur Beteiligung an gesellschaftlicher Entwicklung einlädt.
Das Institut hat sich im Dezember 2020 gegründet. Seine Mitglieder sind eine interdisziplinäre Gemeinschaft von Lehrer:innen, Schulleitungen, didaktische Leitungen, Hochschullehrer:innen, Fachleiter:innen, Medienberater:innen, Akteur:innen aus Lehrerbildung, Mediendidaktik, Fachdidaktik, Schulaufsicht- und administration, Web-Entwicklung, politische Initiative, Blogging, u.v.m.
Nach ihrem Verständnis ermöglicht eine zeitgemäße Prüfungskultur:
- Prozessorientierung
- Selbstbewertung
- Transparenz und Akzeptanz
- Verlässlichkeit
- Versachlichung
- Eigenaktivität
- Selbstregulation
- Nachhaltigkeit des Lernerfolgs
- Organisation wird unabhängiger
- Zeitmanagement wird effektiver
- Korrekturtätigkeit nimmt ab
- Individuelle Lerndiagnostik
- Sinnhaftigkeit des Lernens
- Peer-Feedback
- Selbstbestimmung
(Gründe für eine zeitgemäße Prüfungskultur – Institut für zeitgemäße Prüfungskultur (pruefungskultur.de) [22.03.2024])
In ihrer Analyse der Strategie der KMK stellt das Institut außerdem fest, dass diese Strategie eine Veränderung der Prüfungskultur in Schulen und Hochschulen verlange. U.a. wird hier festgestellt, dass sich auch die KMK gegen die Reproduzierung von Wissen ausspreche und für den nachhaltigen Ausbau von Meta-Kompetenzen und Fähigkeiten plädiere und die Erweiterung des Leistungsbegriffs vom Individuum auf das interpersonale soziale System fordere:
Diese Entwicklung führt dazu, dass das Subjekt von Lehr- und Lernprozessen nicht länger ausschließlich das Individuum ist, sondern ebenso das interpersonale soziale System (vgl. Giesecke 2005, S. 24). Gleichzeitig trägt es der Tatsache Rechnung, dass Leistung eben kein individuelles Konstrukt ist, das einer einzelnen Person zugeschrieben werden kann, sondern immer ein Ergebnis von Vielen ist und sozialen Parametern unterliegt, die sich nicht auf das Individuum zurückführen lassen (vgl. Verheyen 2018a, S. 199ff).
Auf dem Prüfstand. Plädoyer für eine zeitgemäße Prüfungskultur. – Institut für zeitgemäße Prüfungskultur (pruefungskultur.de) [22.03.2024]
Das alles schließt Prozesse des individualisierten und personalisierten Lernens keineswegs aus, aber es erweitert, legitimiert und unterstreicht eine Prüfungskultur, in der Probleme und Aufgaben nicht mehr nur alleine, sondern kollaborativ und kommunikativ im Austausch mit anderen Noviz*innen, aber auch Expert*innen sowie unter Zuhilfenahme analoger und digitaler Hilfsmittel bearbeitet werden.Wenn Wissen und Kompetenzen also zunehmend in vernetzten Gemeinschaften – und unter Einbezug verschiedener Medien – erworben und unter Beweis gestellt werden, können isolierte Einzelprüfungen ohne Zugriff auf das Internet ‘die Lernwirklichkeit der Kultur der Digitalität nicht mehr angemessen repräsentieren’ (Krommer 2019, S. 95). Es bedarf deshalb – so schließlich die Forderung der KMK – der ‘Entwicklung von Prüfungsformaten, die unter anderem die Kompetenzen bei der Fähigkeit zur kollaborativen Zusammenarbeit überprüfen‘ (KMK 2021, S. 13); in Form von Open Media-Klausuren mit Einzel- und Gruppenarbeitsphasen (vgl. Haverkamp 2021, Ingerfeld 2021, Zumbansen 2021), Portfolios (Dreier 2021) oder Projektarbeiten (vgl. Langela-Bickenbach & Albrecht 2021; Reuter 2021; Göbels 2021) liegen solche Formate sogar schon vor.
Zukünftig ist das Ziel solcher Prüfungen nicht, die Lehrkraft in die Lage zu versetzen, anhand scheinbarer Objektivität eine Vergleichbarkeit der Leistung in Form einer Bewertung vorzunehmen, sondern um den Lernenden die Möglichkeit zur Selbst- und Fremdreflexion der eigenen Lernfortschritte zu geben.
Das vollständige Buch ist hier kostenlos abrufbar: https://docs.google.com/document/d/15bTj8qyzC0HLpzr6ETigBSrhdXqIsEUIkW0uQKB5z8w/edit?usp=sharing
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