Ich sitze im Klassenraum und bin wie gelähmt. Ich habe Angst. Mein Bauch tut weh. Ich melde mich. „Mir ist schlecht, ich möchte nach Hause“, sage ich. „Schon wieder?“ fragt die Lehrerin. „Komm nach vorne, wir machen die Stunde erst zu Ende.“ Sie stellt einen Stuhl in die Mitte vor die Tafel. Ich setze mich. Sie platziert einen Mülleimer vor mir. Dann führt sie den Unterricht fort. Jetzt sitze ich dort. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Mir ist schlecht. Und alle meine Mitschüler:innen können mich in meinem Leid beobachten. Ich meide ihre Blicke. Alle meine Gedanken sind darauf konzentriert, mich nicht vor ihren Augen übergeben zu müssen. Am nächsten Tag wehre ich mich mit Händen und Füßen davor, wieder das Schulgebäude betreten zu müssen. Als Erwachsene fürchte ich mich immer noch davor, dass mir in der Öffentlichkeit schlecht wird.
Beschämungen in der Pädagogik treten auch 2024 auf. Sie sind subtiler geworden, denn körperliche Züchtigung ist seit Jahrzehnten verboten. Dass diese Beschämungen geschehen und tiefe Narben in den jungen Seelen hinterlassen, darüber reden wir aktuell zu wenig.
Beschämungen in der Pädagogik können in verschiedenen Formen auftreten (WHA_Piano_Schlonsok_Vanessa.pdf (phlb.de):
- Verbale Beschämungen: Abfällige oder geringschätzige Kommentare über die Leistung oder Fähigkeiten eines Kindes, Bloßstellen eines Kindes vor der Klasse wegen einer schlechten Leistung, Verwendung von Aussagen wie „Du bist zu dumm!“ bei Misserfolgen
- Leistungsbezogene Beschämungen: Öffentliches Vorführen von Fehlern, z.B. beim Lösen einer Aufgabe an der Tafel, Lachen über kleine Rechenfehler, Vergleichen von Schülerleistungen vor der ganzen Klasse
- Emotionale Beschämungen: Mangelnde Empathie bei persönlichen Problemen oder Schwierigkeiten, Herabwürdigung von Gefühlen oder Ängsten der Kinder
- Nonverbale Beschämungen: Bewusstes Ignorieren eines Kindes aus verschiedenen Gründen, Augenrollen oder abfällige Gesten
- Strukturelle Beschämungen: Ungleiche Behandlung oder Bewertung von Schüler:innen, Missachtung individueller Lernbedürfnisse und -tempi, Erzwingen von Leistungen durch Druck und ständige Kontrolle
Es ist wichtig, zu betonen, dass viele dieser Beschämungen unbewusst oder unbeabsichtigt geschehen. Umso wichtiger ist es, dass wir darüber sprechen. Wir müssen gemeinsam diese blinden Flecken im Verhalten der Schutzbefohlenen aufdecken, damit diese aktiv daran arbeiten können, eine wertschätzende Lernumgebung zu schaffen.
„Schamgefühle können durch ganz unterschiedliche Situationen ausgelöst werden. Etwa wenn wir missachtet, bloßgestellt, ausgegrenzt werden oder wenn wir schuldig geworden sind; […] Scham kann auch ausgelöst werden, wenn wir Zeuge der Scham anderer Menschen sind, etwa wenn diese sich selbst erniedrigen oder erniedrigt werden. Denn es gehört zur menschlichen Natur, dass wir die Schamgefühle von Mitmenschen empathisch mitfühlen (‚empathische Scham, umgangssprachlich auch ‚fremdschämen‘: ’sich für jemanden schämen‘), ob wir dies bewusst wahrnehmen oder nicht.“ (Marks, Stephan (2022): Die Würde des Menschen ist verletzlich – Was uns fehlt und wie wir es wiederfinden. Ostfildern: Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG. S. 46)
Marks führt weiter aus, dass die Scham mit der Würde des Menschen verknüpft ist. Schamgefühle treten als Symptom dafür auf, dass wir in unserer Würde verletzt wurden. Konkret bedeutet dies, so Marks, dass wir Scham empfinden, wenn unsere Grundbedürfnisse verletzt wurden:
„Zusammengefasst können Schamgefühle ausgelöst werden, wenn die Grundbedürfnisse nach Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und Integrität verletzt werden. Wir Menschen sind verletzbar, wir sind abhängig davon, dass diese Bedürfnisse respektiert werden. Die Würde eines Menschen zu achten bedeutet, ihm einen ‚Raum‘ zur Verfügung zu stellen, in dem diese vier Grundbedürfnisse gewahrt werden – einen ‚Raum der Würde‘.“ (Marks, Stephan (2022): Die Würde des Menschen ist verletzlich – Was uns fehlt und wie wir es wiederfinden. Ostfildern: Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG. S. 58)
Beschämungen in Kita und Schule können schwerwiegende und langfristige Folgen für Kinder und Jugendliche haben, indem sie sich negativ auf das Selbstbild und Selbstwertgefühl auswirken, ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen im späteren Leben fördern und Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen auslösen (Nifbe):
- Psychische Auswirkungen: Entwicklung von Angst und Verunsicherung, Einschüchterung und Verlust des Selbstvertrauens, Hemmung der Neugier, Entstehung von seelischen und psychosomatischen Störungen
- Soziale Folgen: Kontakt- und Beziehungsstörungen, Rückzug und soziale Isolation, Schwierigkeiten Vertrauen zu Erwachsenen aufzubauen
- Auswirkungen auf das Lernverhalten: Verlust der Lernmotivation und Freude am Entdecken, Entwicklung von Lernblockaden und Leistungsängsten, Hemmung der kognitiven Entwicklung
- Verhaltensänderungen: Entwicklung von aggressivem Verhalten als Schutzreaktion, Versuch durch auffälliges Verhalten gesehen und respektiert zu werden, Unterdrückung der eigenen Gefühle und Bedürfnisse
Vor allem Kinder sind oftmals nicht in der Lage, sich gegen die Beschämungen durch Erwachsene zu wehren oder sich darüber zu beschweren (Gewalt in der Kita – Westermann). Viele Kinder denken sogar, dass sie ein solches Verhalten verdient haben. Wie können wir unsere Lernräume so gestalten, dass sich jede:r sicher und in seiner Würde anerkannt fühlen kann?
„Die Herausforderung für alle, die mit Menschen arbeiten, z. B. Erziehende und Lehrer, ist diese: Manche Schüler kommen mit gesundem Schamempfinden in die Schule, andere mit traumatischer Scham, weil sie etwa in Familie, Umfeld oder von Mitschülern erniedrigt, missbraucht oder gemobbt wurden. Die Schwierigkeit von Lehrenden besteht darin, dass eine Schulklasse aus 25, 30 oder noch mehr Individuen besteht, die jeweils verschiedene Scham-Schicksale haben, die jedoch hinter verschiedenen Masken von Schamabwehr verborgen sind. Für Lehrende ist es daher schwer abzuschätzen, wo die Grenzen jedes einzelnen Schülers liegen. Ein grenzwertiger Witz, der Hinweis auf einen Fehler, selbst ein kurzer Blick des Lehrers kann für den einen Schüler witzig, hilfreich oder unverfänglich sein, für einen anderen kann er das ‚Fass zum Überlaufen bringen‘ und ihn zum ‚Ausrasten‘ bringen. Notwendig ist es daher, dass Lehrende die Möglichkeit haben, ihre Schüler individuell kennenzulernen. Dies setzt allerdings voraus, dass die Schule kein anonymer Massenbetrieb ist, in dem Lehrer und Klasse nur zwei Stunden pro Woche zusammen sind. Diese Zeit reicht kaum aus, um dreißig oder mehr Namen zu lernen. Hilfreich können auch Fallbesprechungsgruppen nach dem Vorbild der Balint-Gruppen sein, bei denen Lehrende ihre verschiedenen Erfahrungen über einzelne Schüler austauschen und durcharbeiten.
Unverzichtbar ist es, dass Lehrende ein Bewusstsein für die Scham entwickeln; dass sie diese oft übersehene Emotion erkennen und verstehen, wie sie ‚funktioniert‘: Wie sie das menschliche Gehirn, Lernen und Sozialverhalten beeinflusst. Wie sie abgewehrt wird. Welche Bedeutung sie für Jungen bzw. Mädchen, deren jeweilige familiäre und kulturelle Hintergründe sowie Altersstufen hat. Dafür wird es notwendig, dass Lehrende entsprechend aus- und fortgebildet werden. Dies gilt für alle Berufe, in denen mit Menschen gearbeitet wird.“ (Marks, Stephan (2022): Die Würde des Menschen ist verletzlich – Was uns fehlt und wie wir es wiederfinden. Ostfildern: Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG. S. 135f)
Beschämungen in der Pädagogik treten auch zwischen Erwachsenen auf. Im Arbeitsumfeld von pädagogischen Einrichtungen beschämen sich Erwachsene gegenseitig. Wir erkennen hier ähnliche Verhaltensweisen wieder, durch die Beschämungen von Erwachsenen gegenüber Kindern ausgelöst werden:
- Zwischen Kolleg:innen: Öffentliche Kritik oder Bloßstellung, abwertende Kommentare zu Arbeitsleistungen oder Methoden, Ausgrenzung oder Ignorieren einzelner Kolleg:innen, Verbreitung von Gerüchten oder persönlichen Informationen
- Durch Vorgesetzte: Herabwürdigende Bemerkungen zur fachlichen Kompetenz, übermäßige Kontrolle und Misstrauen, Vorenthalten von wichtigen Informationen, ungerechte Behandlung bei Aufgabenverteilung oder Beförderungen
- Im Umgang mit Eltern: Abwertende Äußerungen über pädagogische Ansätze, Infragestellen der Professionalität, Beschwerden oder Anschuldigungen vor anderen
- Strukturelle Beschämungen: Mangelnde Wertschätzung pädagogischer Arbeit, Unzureichende Ressourcen und Arbeitsbedingungen, geringes gesellschaftliches Ansehen des Berufs
- Selbstbeschämung: Zweifel an der eigenen Kompetenz, Überhöhte Selbstkritik bei Fehlern oder Misserfolgen, Vergleiche mit idealisierten Vorstellungen
Der beschämte Mensch schützt sich vor weiteren Beschämungen, indem er Verhaltensweisen anwendet, die unbeabsichtigt (oder beabsichtigt) dazu führen können, andere wiederum zu beschämen. Wir sprechen hier von der transgenerationalen Weitergabe unverarbeiteter Scham. Um diese Wiederholung zu unterbrechen, müssen wir Erwachsene uns mit unserer Schamgeschichte auseinandersetzen.
Darüber hinaus, mit Blick auf das System Schule, erscheint es mir unabdingbar, dass bestimmte Schülerleistungen grundsätzlich von Bewertungen verschont bleiben: Leistungen, die unmittelbar mit der Würde, dem Selbstausdruck der Heranwachsenden, zu tun haben wie Kreativität, Körper, Bewegung, Stimme, Gefühle, Erfahrung, Glaube und Meinung. Dies betrifft die Fächer Kunst, Musik und Sport, aber auch Deutsch (z. B. bezogen auf Aufsätze), Religion bzw. Ethik, Geschichte und Gemeinschaftskunde bzw. Sozialkunde bzw. Politische Bildung.“ (Marks, Stephan (2022): Die Würde des Menschen ist verletzlich – Was uns fehlt und wie wir es wiederfinden. Ostfildern: Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG. S. 166)
Schließlich sorgen außerdem strukturelle Rahmenbedingungen dafür, dass Beschämungen geschehen. Das Notensystem führt unweigerlich zu Beschämungen, weil es schwächenorientiert ist und Menschen miteinander in Vergleich setzt. Leistungsdruck, die Separierung nach der vierten Klasse, mangelnde Barrierefreiheit, Chancenungleichheit sorgen dafür, dass Beschämung System hat.
Was muss geschehen?
- Lernkultur: Fehler werden als natürlicher Teil des Lernprozesses angesehen und nicht stigmatisiert, offene Kommunikation über Schwierigkeiten und Herausforderungen wird gefördert, individuelles Lerntempo und -stil werden respektiert und unterstützt
- Bewertungssystem: Fokus auf individuellen Fortschritt statt Vergleich mit anderen, Konstruktives Feedback statt reiner Notenvergabe, Vielfältige Möglichkeiten geben um Kompetenzen zu demonstrieren
- Pädagogischer Ansatz: Wertschätzende und ermutigende Haltung der Lehrkräfte, Förderung von Selbstreflexion und Selbsteinschätzung, Stärkenorientierung statt Defizitorientierung
- Lernumgebung: Sichere und unterstützende Atmosphäre, Raum für Kreativität und Experimentieren, Inklusive Gestaltung die Diversität wertschätzt
- Beziehungsgestaltung: Partnerschaftlicher Umgang zwischen Lehrenden und Lernenden, Förderung von Peer-Learning und gegenseitiger Unterstützung, Einbeziehung von Eltern und Gemeinschaft als Partner im Bildungssystem
- Unterstützende Strukturen: Klare Zuständigkeiten und transparente Entscheidungsprozesse, Ausreichende Ressourcen und angemessene Arbeitsbedingungen, Möglichkeiten zur Weiterbildung und persönlichen Entwicklung, Maßnahmen zur Förderung der Gesundheit, Work-Life-Balance durch flexible Arbeitszeitmodelle, Einbeziehung der Teams in Entscheidungsprozesse, Vorgesetzte als Coaches und Unterstützer
Wir alle sind in der Verantwortung. Lasst uns #machenstattmeckern
Schreibe einen Kommentar