Aus „Bildung 4.0 – Eine Vision für den systemischen Wandel„, von Madita Hänsch
Andreas Schleicher ist Statistiker, Bildungsforscher und Direktor für Bildung der OECD. Sein Grundschullehrer stufte ihn 1974 als ungeeignet fürs Gymnasium ein. Sein Vater setzte sich dennoch für den Besuch seines Sohns einer höheren Schule ein und schickte ihn auf die Waldorfschule in Hamburg-Wandsbek. Er schloss diese mit einem Notendurchschnitt von 1,0 ab. In seinem letzten Schuljahr (1984) nahm er außerdem mit einer Spracherkennungs-Software an Jugend forscht teil und erhielt dafür einen Sonderpreis. Heute gilt er als scharfer Kritiker am deutschen Bildungssystem – ein Kritiker, der seiner Kritik stets konkrete Lösungen folgen lässt:
Wir leben in einer Welt, in der die Dinge, die leicht zu unterrichten und zu testen sind, auch leicht digitalisiert und automatisiert werden können. Die Welt belohnt uns nicht mehr allein für das, was wir wissen – Google weiß ja schon alles -, sondern für das, was wir mit dem, was wir wissen, tun können. In der Zukunft wird es darum gehen, die künstliche Intelligenz von Computern mit den kognitiven, sozialen und emotionalen Fähigkeiten und Werten von Menschen zu verknüpfen. Es werden unsere Vorstellungskraft, unser Bewusstsein und unser Verantwortungsgefühl sein, die uns helfen werden, Technologien zu nutzen, um die Welt zum Besseren zu gestalten. Erfolg in der Bildung bedeutet nicht nur das Lernen von Sprachen, Mathematik [sic!] oder Geschichte, sondern auch die Entwicklung von Identität, Handlungsfähigkeit und Sinnhaftigkeit. Es geht um Mitgefühl, darum, die Herzen zu öffnen. Und es geht um Mut, um die Fähigkeit, unsere kognitiven, sozialen und emotionalen Ressourcen zu mobilisieren. Das werden auch unsere besten Mittel gegen die größten Bedrohungen unserer Zeit sein: die Ignoranz – der verschlossene Verstand, der Hass – das verschlossene Herz – und die Angst – der Feind von Handlungsfähigkeit. […]Die Quintessenz ist, dass wir, wenn wir der technologischen Entwicklung voraus sein wollen, die Qualitäten finden und verfeinern müssen, die einzigartig für uns Menschen sind. Dieses Vermögen gilt es zu entwickeln, damit sich unsere Fähigkeiten und die unserer Computer ergänzen können und nicht miteinander konkurrieren.
Andreas Schleicher – Wikipedia [21.03.2024]
Vor diesem Hintergrund wurde der OECD Lernkompass 2030 in einer internationalen Zusammenarbeit von Verantwortlichen aus Politik, Wissenschaft, Gesellschaft und Wirtschaft der OECD-Staaten entwickelt. In einer Zeit vieler Unwägbarkeiten und Krisen bietet er Orientierung, wie wir Schülerinnen und Schüler darauf vorbereiten können, ihre Gegenwart und Zukunft, ihr eigenes Leben und ihre Gemeinschaften verantwortungsvoll zu gestalten.
Mit dem OECD Lernkompass 2030 ist eine wissenschaftlich fundierte Empfehlung der Organisation an die OECD-Länder entstanden, wie sie die Curricula ihrer Bildungshäuser entwickeln können, sodass sie den Anforderungen des 21. Jahrhunderts an das Bildungssystem gerecht werden:
OECD_Lernkompass_2030.pdf [21.03.2024]
Der Lernkompass versteht sich als dynamisches Rahmenkonzept, das beim intrinsischen Wert des Lernens ansetzt und anerkennt, dass Lernen nicht nur innerhalb der Schule stattfindet. Er ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit von Regierungsvertreter:innen, wissenschaftlichen Expert:innen, Schulleitungen, Lehrer:innen, Schüler:innen und zivilgesellschaftlichen Organisationen aus aller Welt, bei der das gesellschaftliche Wohlergehen, das über den wirtschaftlichen und materiellen Wohlstand hinausgeht, das gemeinsame Ziel war. Der Lernkompass grenzt sich dabei klar davon ab, ein Rahmenkonzept für Leistungsbeurteilung zu sein: “Er bietet eine umfassende Vorstellung davon, welche Arten von Kompetenzen Lernende im Jahr 2030 für ein erfolgreiches Leben benötigen, und fragt nicht, welche Kompetenzen gemessen werden sollten oder könnten.” (OECD_Lernkompass_2030.pdf [21.03.2024]) Um auch das zu ermöglichen, was nicht gemessen werden kann.
OECD_Lernkompass_2030.pdf [21.03.2024]
Wie bereits erwähnt, hat Estland den OECD Lernkompass für seine nationale Bildungsstrategie berücksichtigt. Wer sich die 120 Seiten zu Gemüte führt, dem wird klar, dass diese Empfehlung der OECD ein bemerkenswertes Angebot ist, das jedem Land kostenlos zur Verfügung steht. Im Folgenden soll er deshalb ebenfalls als Grundlage für ein Meta-Curriculum für das deutsche Bildungssystem 4.0 dienen.
Die Werte, die das Meta-Curriculum enthalten, können sich aus unserem Grundgesetz ableiten lassen. Die Skills können wir von dem bereits erwähnten Future Skills Projekt übernehmen. Die Haltungen entspringen der neuen nationalen Bildungsstrategie. Und für das Wissen leisten Initiativen wie das Center for Curriculum Redesign fundierte Grundlagen, auf denen die schon mehrfach erwähnte notwendige interdisziplinäre Arbeitsgruppe aufbauen kann.
Wenn ein Curriculum nicht anpassbar ist, wird es starr. Es gibt nicht das perfekte, das ‘fertige’ Curriculum, solange die Welt sich ändern und sich damit auch die Ziele für das optimale Curriculum verändern. Je nach Inhalt kann diese Veränderung sich mit ganz unterschiedlichen Geschwindigkeiten vollziehen. So ändert sich beispielsweise die gerade relevante Programmiersprache alle zwei Jahre, wohingegen die Philosophie der Antike eine recht stabile Angelegenheit ist. Damit ist nicht gesagt, dass ein Curriculum jede Mode mitmachen muss. Es braucht vielmehr eingebaute Mechanismen, über die das Curriculum bei neuen Erkenntnissen oder Durchbrüchen ein Update bekommen kann.
Fadel, Charles & Bialik, Maya & Trilling, Bernie (2017): Die vier Dimensionen der Bildung – Was Schülerinnen und Schüler im 21. Jahrhundert lernen müssen. Hamburg: Verlag ZLL21 e.V. S. 51f.
Ein weiterer Aspekt eines anpassungsfähigen Curriculums besteht darin, dass Teile auch außerhalb des Klassenzimmers umgesetzt werden können – über Computerbildschirme buchstäblich von überall auf der Welt aus. Für einige wichtige Lernziele ist das Klassenzimmer nicht die optimale Lernumgebung. Heutzutage gibt es viele Möglichkeiten für intensive Lerngelegenheiten, die über die Grenzen des Klassenzimmers hinausgehen. Diese informellen Möglichkeiten umfassen verschiedene Programme im Nachmittagsbereich (von AGs bis zu Pfadfindern), Museen, digitale Ausflüge, Online-Lernprogramme, digitale Mikrozertifikate und Lernabzeichen, Praktika, Hospitationen, Service-Learning und vieles mehr.
Ein wahrhaft anpassungsfähiges Curriculum für das 21. Jahrhundert wird aus zwei Gründen nie ‘fertig’ und abgeschlossen sein. Erstens: Das Wissen der Menschheit wächst ständig weiter und verändert sich, so dass ein Curriculum sich anpassen muss, wenn es aktuell bleiben soll. […]
Zweitens: Es ist wichtig, dass wir im Curriculum einen Anteil für jeden Lernenden reservieren, der sich nach dessen individuellen Bedürfnissen, Interessen und Zielen richtet. Es hat sich gezeigt, dass persönliche Kontrolle über das eigene Lernen ein entscheidender Faktor ist, wenn Motivationen des Lernenden, positive Lernergebnisse und die Entwicklung der exekutiven Funktionen gefördert werden sollen. Darüber hinaus trägt es zu einer wichtigen Strategie für das lebenslange Lernen bei. Ein wirksames Curriculum stattet die Lernenden mit einer soliden Grundlage für verschiedene Wissensgebiete aus, wobei Schlüsselkonzepte, Verfahren, Methoden und Werkzeuge hervorgehoben werden. Es beinhaltet auch die relevanten praktischen, kognitiven und emotionalen Aspekte derjenigen Menschen, die dieses Wissen entwickeln und in der Welt anwenden. So werden die Lernenden in die Lage versetzt, selbst zu wählen, welche Felder sie weiterstudieren und welche Laufbahn sie in ihrem weiteren Leben einschlagen wollen.
Einer ganzheitlichen nationalen Bildungsstrategie folgend, brauchen wir ein Meta-Curriculum, das in ein Bildungsökosystem des 21. Jahrhunderts passt, also Anwendung von der Vorschule bis zur Berufsschule bzw. Hochschule findet und hier Verbindlichkeit schafft.
Dieses Meta-Curriculum muss außerdem Raum für regionale Spezifikationen und persönliche Lernziele lassen.
Dank der Digitalisierung kann die Aktualisierung des Curriculums effizient und innerhalb kurzer Zeit erfolgen. Anstatt in einem über zwei Jahre andauernden Prozess, der über die verschiedenen Instanzen der Behörden und Ministerien verläuft, kann das Meta-Curriculum in einer digitalen Umgebung partizipativ gestaltet werden. Dafür erhalten Expert:innen aus der Wissenschaft sowie Bildungsakteur:innen Zugang. Sie können Vorschläge für Änderungen einreichen, die von einem dafür eingesetzten Gremium geprüft werden. Wenn Änderungen akzeptiert werden, erhalten alle betroffenen Bildungshäuser und Dienstleister (z.B. Schulverlage) automatisiert Nachricht von diesen Änderungen. Lernende können ebenfalls an einem davon unabhängigen, öffentlich zugänglichen Vorschlagsverfahren teilnehmen.
Das vollständige Buch ist hier kostenlos abrufbar: https://docs.google.com/document/d/1rcobSJ33s-R2APEfEz4DV_9RgW0qzTHy0489LqvXld8/edit?usp=sharing
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