Chancengleichheit

Aus „Bildung 4.0 – Eine Vision für den systemischen Wandel„, von Madita Hänsch

“Durch die Bildungsexpansionen in den letzten 60 Jahren hat sich das Bildungsniveau der Bevölkerung wesentlich erhöht und damit wuchsen auch die Bildungs- und Teilhabechancen aller Bevölkerungsgruppen. Nicht zuletzt auch deshalb ist die Gesellschaft heute deutlich dynamischer, pluraler und liberaler. Gleichzeitig gibt es nach wie vor junge Menschen, die von diesen Chancenzuwächsen nicht profitieren. Für sie wird die Situation hochproblematisch, denn sie laufen Gefahr, den Kompetenz- und Flexibilitätsanforderungen heute und in Zukunft nicht zu genügen. Sie sind zurückgefallen – zumindest im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung. Einfache und mittlere Bildungsabschlüsse haben an Wert verloren, wodurch sich für einen Teil der jungen Menschen die Benachteiligung verstärkt, weil diese entwertete Bildung keinen sicheren Platz in der Gesellschaft garantiert. Die Bildungsexpansion hat die Perspektiven und Chancen verschoben – sehr viele haben davon profitiert, aber bei Weitem nicht alle.

 El-Mafaalani, Aladin (2021): Mythos Bildung – Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch. S. 9f.

El-Mafaalani führt weiter aus, dass die Dreigliedrigkeit des Systems so lange funktioniere, wie für jeden Schulabschluss ein sinnvoller und sicherer Platz in der Gesellschaft vorgesehen und vorhanden sei. Doch inzwischen werden Ausbildungsplätze und Jobs in zunehmendem Maße an Abiturient:innen vergeben, und mit abnehmender Tendenz an Realschul- und Hauptschulabsolvent:innen. 

PISA zeigt mit jeder Erhebung von Neuem, dass sich diese sozioökonomische Ungleichheit im System stabilisiert (GERMANY_Country-Note-PISA-2022_DEU.pdf (oecd.org) [19.03.2024]). Es gelingt unserer Gesellschaft bisher nicht, diese Ungleichheit mithilfe von Bildung auszugleichen. Dabei geht es nicht darum, den Menschen ihre Individualität zu nehmen, indem alle dasselbe in gleichem Tempo lernen sollen – es geht darum, allen die Chance zu geben, individuell gefördert zu werden, damit sie die gleichen Bildungs- und Teilhabechancen erhalten. Jede:r Mensch soll die Wahl haben, welchen Platz er in der Gesellschaft einnehmen möchte. Das ist es, was der erste und zweite Artikel unseres Grundgesetzes u.a. ausdrücken. 

Quelle: pexels.com

Tatsache ist jedoch:

In Deutschland zählen 2022 nach dem PISA-Index 31 Prozent der Schülerinnen und Schüler zur obersten Stufe der internationalen sozioökonomischen Skala. Mit 534 Punkten in Mathematik erreichen diese Jugendlichen international einen der höchsten Werte für Schülerinnen und Schüler mit ähnlichem sozioökonomischem Hintergrund. Damit erzielen sozial privilegierte Schülerinnen und Schüler in Deutschland 111 Punkte mehr als sozial benachteiligte 15-Jährige. Der Abstand zwischen beiden Gruppen ist größer als im OECD-Durchschnitt (93 Punkte) und seit 2012 unverändert.

PISA-Studie: Die wichtigsten Ergebnisse und Reaktionen (deutsches-schulportal.de) [19.03.2024]

Neben der Veränderung der Arbeits- und Lernkultur in unseren Systemen, die in den vorherigen Kapiteln ausführlich thematisiert wurden, braucht es tiefgreifende strukturelle Veränderungen im System, um mehr Chancengleichheit zu ermöglichen. Die Dreigliedrigkeit behindert systematisch dieses Streben. Deshalb spreche ich mich für die Einheitsschule aus, die außerhalb von Deutschland die Regel ist und beweist, dass sie auch in Ländern mit heterogenen Bevölkerungsgruppen funktioniert – wenn die Förderung von leistungsstarken und leistungsschwachen Schüler:innen durch Unterstützungsprogramme umgesetzt wird, die fest in den Schulalltag integriert werden:

Alle schulischen und bildungsbezogenen Probleme, die ich bisher im Rahmen eigener Forschung untersucht habe und die weitgehend – aber nicht immer – mit sozialer Benachteiligung zusammenhängen, wären mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht durch einen ‘besseren’ Unterricht verhindert worden, wohl aber durch ein solches soziales Netz von Multi-Professionellen, das sich um die Kinder und Jugendlichen spannt, den Unterricht flankiert und weitreichend ergänzt. Ich spreche hier neben Kompetenzarmut auch von Analphabetismus, Gewalt, Radikalisierung, migrationsspezifischen Herausforderungen und gesundheitlichen Störungen im Kindesalter.
Auf diese Weise könnte die Schule vieles von dem, was sie bisher voraussetzt, fördern und soziale Benachteiligung ausgleichen. Den hehren Zielen, alle Kinder alles erleben zu lassen, was die Welt zu bieten hat, kein Kind zurückzulassen und allen eine Perspektive zu geben, würde man sich zumindest deutlich annähern.

  El-Mafaalani (2021): S. 233.

Die Multi-Professionalität an Schulen kann auch außerhalb von Schule aktiv gefördert werden, indem z.B. Mentoring- und Buddy-Programme in die Schule integriert werden. Zudem ist es erforderlich, dass jede:r vor Eintritt in das deutsche Schulsystem einen Sprachkurs besucht, um am Lernen teilhaben zu können. Ein Sprachniveau von mindestens A2 ist erforderlich, bevor am regulären Unterricht teilgenommen werden kann. Um dennoch die soziale Integration von Beginn an zu fördern, können diese Sprachkurse räumlich im Schulkontext stattfinden.

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Ein weiteres Argument gegen die Dreigliedrigkeit ist die Sortierung, die bereits nach der Primarschule stattfindet und damit den folgenden Bildungsweg zu früh festlegt und Chancen systematisch verbaut: 

In nationalen und international vergleichenden Studien wurde gezeigt, dass eine frühe Selektion Chancenungleichheit erhöht, weil die ungünstigen Startbedingungen relativ früh zu institutionellen Folgen führen. Wenn feststeht, dass ein Läufer bei einem Wettrennen gegenüber den anderen Läufern einen Vorsprung von 10 Metern hat, macht es einen extrem großen Unterschied, ob es sich um einen 50- oder einen 100-Meter-Lauf handelt. Im gegliederten Schulsystem mit früher Selektion werden soziale Ungleichheiten eher verstärkt, als dass sie abgemildert werden.

El-Mafaalani (2021): S. 86.

Die Hauptschule verfolgt einen anderen Lehrplan, als die Realschule oder das Gymnasium. Demnach ist ab Klasse 5 festgelegt, auf welchem Niveau die Kinder und Jugendlichen fortan die Möglichkeit haben, sich weiterzuentwickeln. Ein Aufstieg von der Haupt- auf die Realschule oder von der Realschule auf das Gymnasium ist dementsprechend erschwert, da der Leistungsstand in derselben Jahrgangsstufe immer mehr auseinander driftet. Allzu oft werden außerdem Schüler:innen zu Unrecht auf niedrigere Bildungsniveaus aufgeteilt, obwohl sie eine hohe Intelligenz aufweisen und lediglich aufgrund von Vorurteilen oder ihres Sozialverhaltens von den Lehrkräften fälschlich beurteilt werden. 

Kurzum, die Dreigliedrigkeit steht entgegen dem Anspruch, Chancengleichheit zu fördern und soziale Gerechtigkeit durch Bildung zu ermöglichen. Deshalb gehört sie abgeschafft. Eine Förderung von leistungsstarken und leistungsschwachen Kindern und Jugendlichen kann stattdessen durch die Multi-Professionalität der Schulteams und die Integration von Unterstützungsprogrammen von außerhalb der Schule umgesetzt werden.

Das Recht auf einen Kita-Platz ist ein Fortschritt. Dem müssen jetzt entsprechende Anstrengungen folgen, damit dieser umgesetzt werden kann. Denn frühkindliche Bildung fördert die Chancengleichheit. Wir sollten allerdings gewahr davor bleiben, die Kitas nicht zu “verschulen” (siehe Kapitel Der Raum des Spiels) und den Eltern den Entscheidungsraum zu belassen, wie viele Stunden am Tag ihre Kinder in der Kita verbringen sollen – nicht jedes Kind profitiert von der Ganztagskita. Damit diese Wahlfreiheit gelingt, braucht es eine entsprechende Förderung der Vereinbarkeit an anderer Stelle, nämlich den Arbeitgebern.

Jene PISA-Länder, die im internationalen Vergleich besonders in der Chancengleichheit glänzen, bieten nach wie vor die Vorschule an. In Deutschland hingegen hat sich die Politik im Laufe der letzten Jahrzehnte von der Vorschule verabschiedet. Es gibt viele Kitas, die dennoch ihr pädagogisches Angebot mit Blick auf den Übergang in die Schule ausrichten und damit die Schwelle so niedrig wie möglich halten – hin und wieder klappt dies besonders gut durch eine Kooperation mit der entsprechenden Primarschule. Aber diese erfolgreichen Modelle sind bisher nicht die Regel – sollten es zukünftig jedoch werden, um die schmerzhaften und tränenreichen Szenen beim Wechsel in die Schule verschwinden zu lassen und den Kindern von Anfang an einen guten Start in die Schule zu ermöglichen.

Erfolgreiche PISA-Länder beginnen außerdem nicht vor dem 7. Lebensjahr mit der schulischen Bildung ihrer Kinder. 

Zwar zeigt zum Beispiel eine Studie aus Berlin, dass spätestens in der dritten Klasse alle Kinder, die zunächst unter den mit 5 Jahren eingeschulten Kindern als auffällig leistungsschwach galten, aufgeholt hatten, doch sorgt die hohe Heterogenität der Kinder, wenn sie mit 5, 6 oder 7 Jahren in der ersten Klasse starten, für eine höhere Belastung der Lehrkräfte. Diese erhöhte Belastung ist schlichtweg unnötig, da die Kinder, die früher eingeschult werden, gegenüber älteren Kindern keine Vorteile gewinnen.

Andere Studien warnen hingegen vor langfristigen Folgen einer zu frühen Einschulung, darunter u.a. das erhöhte Risiko einer ADHS-Diagnose. Außerdem seien Kinder, die erst mit 7 Jahren eingeschult werden, langfristig erfolgreicher auf ihrem Bildungsweg und erreichen höhere Bildungsabschlüsse (Bildungsforschung: Wann ist ein Kind reif für die Schule? – Spektrum der Wissenschaft [19.03.2024]).

Da die Kinder durch eine frühere Einschulung keine Vorteile erlangen und sogar eher negative Folgen wahrscheinlicher sind als bei einer Einschulung mit 7 Jahren, lautet die klare Empfehlung, das Einschulungsalter auf 7 Jahre festzulegen.

Des Weiteren sollte die Primarschulzeit auf mindestens 5 Jahre verlängert werden. Da die Studien in Deutschland zur Länge der Primarschulzeit im Kontext der Dreigliedrigkeit vorgenommen wurden und sich die Diskussion an dieser Stelle daher darauf fokussiert, in welchem Alter die “Trennung sinnvoll” sei, ergibt die Recherche nach der Frage, ob 4 oder 6 Jahre Primarschulzeit förderlicher sind, keine Ergebnisse. 

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Außerhalb von Deutschland hat nur Österreich eine ebenso kurze Primarschulzeit. Alle anderen Länder setzen auf eine längere gemeinsame Bildung der grundlegenden Kompetenzen, ehe sie Spezialisierungen ermöglichen. In Finnland verbringen die Kinder und Jugendlichen sogar 9 Jahre gemeinsam an derselben Schule, bis sie diese direkt verlassen können oder sich für weiterführende Abschlüsse entscheiden. 

Wenn wir uns also von der Dreigliedrigkeit verabschiedet haben, wieso verbleiben unsere Kinder und Jugendlichen nicht ebenfalls 9 Jahre gemeinsam an derselben Schule? Damit wir von der Vielfalt unseres Bildungssystems ganzheitlich profitieren können. Wie ich im Kapitel Meta-Curriculum vertiefen werde, ist es im Sinne einer Gestaltung bedürfnisgerechter Lernräume erforderlich, dass Schulen eigene Schwerpunkte und Profile bilden können (technisch, musisch, sprachlich, etc.). Dementsprechend wäre es zu früh, Kindern und Eltern bereits nach 4 Jahren Primarschule die Entscheidung abzuverlangen, auf welcher weiterführenden Schule die persönliche Lernreise fortgeführt werden soll. 

Ich spreche außerdem von mindestens 5 Jahren und empfehle eine Regelzeit für die Primarschule von 6 Jahren, mit einer Option die Zeit zu verkürzen, wenn individuelle Umstände (zum Beispiel Insel- oder Hochbegabung) dazu führen, dass das Kind von einer kürzeren Primarschulzeit nachweislich profitiert. 

Wir dürfen an dieser Stelle vor allen Dingen nicht unterschätzen, welche Rolle es für die Förderung der sozialen und emotionalen Kompetenzen spielt, wenn unsere Kinder für einen längeren Zeitraum ihre Beziehungen, die sie in dieser jungen und sensiblen Lebensphase auf der Primarschule aufbauen, lang genug fortführen können, sodass sie die ggf. räumliche Trennung durch den Wechsel auf weiterführende Schulen überstehen können. Wenn die Kindheit in dieser Lebensphase in die Pubertät übergeht, sind stabile freundschaftliche Beziehungen von großer Wichtigkeit für unsere Jugendlichen.

Das vollständige Buch ist hier kostenlos abrufbar: https://docs.google.com/document/d/15bTj8qyzC0HLpzr6ETigBSrhdXqIsEUIkW0uQKB5z8w/edit?usp=sharing


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