Aus „Bildung 4.0 – Eine Vision für den systemischen Wandel„, von Madita Hänsch
Diverse Länder, deren Schulsysteme besonders erfolgreich sind, setzen auf langfristige nationale Bildungsstrategien. Darunter zum Beispiel Estland mit seiner Education Strategy 2021-2035 für den Zeitraum der nächsten 15 Jahre. Diese Strategie basiert auf Studien und Analysen, Expertenmeinungen, der allgemeinen nationalen Strategie, berücksichtigt die SDGs der UN und ist Ergebnis einer Zusammenarbeit von Strategie-Arbeitsgruppen, der Partizipation der Öffentlichkeit und knüpft an die Evaluationen der vorangegangenen Strategie an:
The Education Strategy 2021-2035, which sets out key educational goals for the next 15 years, is the follow-up to the Estonian Lifelong Learning Strategy 2020. The strategy is based on studies and analyses, vision documents prepared by experts, the Estonie 2035 Strategy, the UN Sustainable Development Goals (SDGs), the results of the work of the education strategy working groups, feedback and input gathered through public consultations and engagement events, and the results of the estonian Lifelong Learning Strategy 2020 and its mid-term evaluation.
haridusvaldkonna_arengukava_2035_kinnittaud_vv_eng_0-1.pdf (educationestonia.org) [18.03.2024]
Looking ahead, we should take account of demographic change, people’s changing preferences and lifestyles, climate change, globalisation, technological progress, as well as the development of democracy and civil society. These developments change the nature of work and people’s lives and imply changes in education. In a rapidly changing world, the education system should ensure equal access to high-quality education irrespective of social and cultural backgrounds, age, gender, etc. The need to increase coherence between, and the flexibility of, different levels and types of education has gained greater importance.
In der Strategie werden die übergeordneten Ziele erläutert, die zugrunde liegenden Prinzipien und Werte, die Ausgangssituation beschrieben, die Umsetzungsmaßnahmen erläutert sowie das Management zur Implementierung der Strategie. Schließlich geht das Dokument noch auf die Schnittstellen zur EU und anderen übergreifenden Richtlinien ein und auf die voraussichtlichen Kosten.
Dies sind die drei übergeordneten strategischen Ziele für Estlands Bildungssystem bis 2035:
- Learning opportunities are diverse and accessible, and the education system enables smooth transitions between different levels and types of education
- Estonia has competent and motivated teachers and heads of school, a diverse learning environment and learner-centred approach to learning and teaching
- Learning options are responsive to the development needs of society and the labour market
Ein weiteres Beispiel liegt am anderen Ende des Planeten: Neuseeland. Das Bildungsministerium dieser Nation hat eine ganze Reihe an Strategien und Policies formuliert, u.a. um auch gezielt auf die indigene Bevölkerung, die Maori, einzugehen, aber auch um das allgemeine Wohlbefinden der Menschen im System zu fördern oder die Beteiligung der Bürger:innen am System zu erhöhen. Diese Strategien basieren auf einer klaren Vision:
Our strategies and policies result in better education for all New Zealanders. We’re focusing on building a world-leading education system that provides all New Zealanders with the knowledge, skills and values to be successful citizens in the 21st century.
Strategies and policies – Education in New Zealand [18.03.2024]
In Deutschland ist Bildung bisher Ländersache. Deshalb befasst sich die Kultusministerkonferenz (KMK) mit strategischen Fragen bezogen auf das Schulsystem und formuliert dafür Empfehlungen.
Die KMK hat zuletzt im Jahr 2016 die Strategie Bildung in der digitalen Welt veröffentlicht. Diese gelte als ein “Handlungskonzept für die zukünftige Entwicklung der Bildung in Deutschland” (Strategie Bildung in der digitalen Welt (kmk.org) [18.03.2024]) und wurde 2021 mit der ergänzenden Empfehlung Lehren und Lernen in der digitalen Welt vertieft. Zur Bearbeitung dieser Themen hat die KMK im Januar 2022 die Kommission Bildung in der digitalen Welt (DigiKom) eingesetzt, welche die Umsetzung begleitet, sich mit den Empfehlungen der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der KMK (SWK) befasst und im direkten Austausch mit der Bund-Länder-Steuerungsgruppe zum DigitalPakt Schule steht. Diese Kommission legt jährlich einen Fortschrittsbericht vor.
Liest man sich diese Dokumente durch, finden sich darin allerdings keine klar formulierten, richtungsweisenden strategischen Ziele, schon gar nicht eine Vision, die die Akteur:innen im System zum Handeln inspirieren. Die Formulierungen bleiben vage und oberflächlich:
Der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule besteht im Kern darin, Schülerinnen und Schüler angemessen auf das Leben in der derzeitigen und künftigen Gesellschaft vorzubereiten und sie zu einer aktiven und verantwortlichen Teilhabe am kulturellen, gesellschaftlichen, politischen, beruflichen und wirtschaftlichen Leben zu befähigen. Dabei werden gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungsprozesse und neue Anforderungen aufgegriffen.
Umschlag KMK_23.11.indd [18.03.2024]
Was bedeutet eine “angemessene Vorbereitung” konkret? Welche Veränderungsprozesse und Anforderungen sind gemeint? Auf insgesamt 66 Seiten der Strategie Bildung in der digitalen Welt werden keine eindeutigen Handlungsanweisungen für zum Beispiel Lehrkräfte sichtbar. Es bleibt bei Formulierungen wie “Bei der Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen werden digitale Lernumgebungen entsprechend curricularer Vorgaben dem Primat des Pädagogischen folgend systematisch eingesetzt”, die nach wie vor viel Raum zur Interpretation lassen – Welches “Primat des Pädagogischen” ist gemeint? Montessori? Waldorf? Phänomenbasiertes Lernen?
Auf Nachfrage bei der Pressestelle der KMK erhielt ich die Informationen, dass die besagte Strategie den Fokus auf die Herausforderungen des digitalen Wandels im Bildungssystem legt. Außerdem bezieht sie sich auf Schule, Hochschule und Weiterbildung und “basiert auf einer umfassenden Analyse und Beratung durch Expertinnen und Experten, die in den verschiedenen Bildungsbereichen tätig sind. Es handelt sich um einen kontinuierlichen Prozess, der in Zusammenarbeit mit verschiedenen Akteuren erfolgt”, so Torsten Heil, Pressesprecher der KMK. Zur Umsetzung der Strategie wurden die wesentlichen Kompetenzen in die verbindlichen Lehrpläne der Länder übernommen sowie im Digitalpakt Schule 2021-2024 abgebildet.
Für die frühkindliche Bildung sei die KMK nicht zuständig, sondern die Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK). Die JFMK hat 2004 länderübergreifende Bildungsziele mit dem Gemeinsamen Rahmen für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen formuliert, der 2017 aktualisiert wurde:
Im Vordergrund der Bildungsbemühungen steht, das Selbstkonzept des Kindes zu stärken. Dazu gehört die Vermittlung grundlegender Kompetenzen und die Entwicklung, Unterstützung und Stärkung persönlicher Ressourcen, die das Kind motivieren, darauf vorbereiten und stark machen, künftige Lebens- und Lernaufgaben aufzugreifen und zu bewältigen, verantwortlich am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und ein Leben lang zu lernen.
2004_06_03-Fruehe-Bildung-Kindertageseinrichtungen.pdf (kmk.org) [21.03.2024]
Zum einen werden diese Strategien zwar (im Fall der KMK) von jährlichen Fortschrittsberichten begleitet, aber ohne eine zeitliche Konkretisierung, wann diese Ziele in welchem Umfang erreicht werden müssen. Es gibt keine Verbindlichkeit der Länder, sich gegenüber einer solchen Zielrichtung rechtfertigen zu müssen und die Länder setzen die Ziele unterschiedlich um, sodass kein Qualitätsstandard besteht.
Zum anderen sind die Strategien nicht ganzheitlich und systemisch. Im Fall der Strategie der KMK liegt der Fokus auf digitaler Bildung, auf Inhalten und Methoden, nicht aber auf Konzept, Struktur und Rahmenbedingungen. Ähnlich verhält es sich mit der Strategie für den frühkindlichen Bereich der JFMK. Hier werden sogenannte Bildungspläne von den jeweiligen Ländern verfasst, die mit unterschiedlicher Verbindlichkeit und Geltung versehen werden. Auch hier gibt es keinen Qualitätsstandard, der für alle Länder gleichbedeutend ist. Tatsächlich ist die Strategie der JFMK in ihrer Formulierung deutlich konkreter und in einfacherer Sprache beschrieben, sodass die Akteur:innen durchaus in der Lage sind, daraus Handlungsempfehlungen für ihre Einrichtungen abzuleiten. Doch auch hier fehlt eine zeitliche Konkretisierung, wann welche Ziele in welchem Umfang erreicht sein müssen.
Wenn wir an dem föderalen Bildungssystem festhalten wollen, brauchen wir Verbindlichkeit durch eine nationale Bildungsstrategie, die klare Vorgaben formuliert, deren Umsetzung konsequent überprüft und mit gezielter Förderung durch Expert:innen in den Bildungshäusern vor Ort unterstützt werden muss – ganz abgesehen von den Ressourcen, die zum Beispiel durch einen Digitalpakt 2.0 verlässlich und bedingungslos zur Verfügung stehen müssen.
Es ist nicht zielführend, wenn die Formulierung solcher Strategien Politiker:innen obliegt, die nicht vom Fach sind und dazu neigen, kurzfristige Ziele zu setzen, mit Blick auf die nächsten Wahlen und damit nicht davor gefeit sind, ihre persönlichen politischen Interessen hiermit zu vermengen.
Die nationale Bildungsstrategie sollte nach dem Vorbild von Ländern wie Estland auf wissenschaftlichen Studien basieren, unter Einbezug der Öffentlichkeit mitgestaltet und von Expert:innengruppen gründlich erarbeitet werden, die über den Turm zu Babel der KMK und SWK hinausgehen, indem auch Lehrkräfte, pädagogische Fachkräfte, Eltern, die Wirtschaft, Unternehmensvertretungen aus dem Bereich der Bildung, und Lernende mit einbezogen werden. Sie muss außerdem Schnittstellen zu Policies wie den SDGs der UN oder dem OECD-Lernkompass aufweisen. Und sie braucht eine Vision, die zum Handeln inspiriert.
Das vollständige Buch ist hier kostenlos abrufbar: https://docs.google.com/document/d/15bTj8qyzC0HLpzr6ETigBSrhdXqIsEUIkW0uQKB5z8w/edit?usp=sharing
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