Der inklusive Raum

Aus „Bildung 4.0 – Eine Vision für den systemischen Wandel“, von Madita Hänsch

Was bedeutet Inklusion?

“Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch ganz natürlich dazu gehört. Oder anders: Inklusion ist, wenn alle mitmachen dürfen. Egal wie du aussiehst, welche Sprache du sprichst oder ob du eine Behinderung hast. Zum Beispiel: Kinder mit und ohne Behinderung lernen zusammen in der Schule. Wenn jeder Mensch überall dabei sein kann, am Arbeitsplatz, beim Wohnen oder in der Freizeit: Das ist Inklusion.

 Was ist Inklusion? | Aktion Mensch (aktion-mensch.de) [15.03.2024]

Inklusion ist eine Haltung und eine Aufgabe (engl. commitment). Als Gesellschaft haben wir die Aufgabe, unsere öffentlichen Räume inklusiv zu gestalten, das heißt, sie so zu gestalten, dass jede:r teilhaben kann. Zu diesen öffentlichen Räumen gehören auch unsere Bildungshäuser, unsere Kitas, Schulen, Berufsschulen, Universitäten, Hochschulen, Volkshochschulen und weitere öffentliche außerschulische Lernorte. 

Um diese Lernräume inklusiv zu gestalten, ist mehr gefordert als eine entsprechende räumliche Ausstattung. Vor allen Dingen braucht es eine inklusive Haltung von unseren pädagogischen Fachkräften und Lernbegleitungen sowie allen anderen an der Gestaltung des Systems Beteiligten. 

Dabei ist es zu kurz gedacht, bei der Inklusion den Fokus auf Menschen mit Beeinträchtigungen zu legen. Inklusion umfasst uns alle, mit unseren vielfältigen sprachlichen, kulturellen, physiologischen und psychischen Grenzen. 

Zum Beispiel: Für mich als hochsensible Person ist es wichtig, Rückzugsräume zu haben, in denen ich eine möglichst reizarme Umgebung vorfinde, mit einer Ausstattung, die beruhigend auf mein Nervensystem wirkt. 

Quelle: pexels.com

An dieser Stelle möchte ich erneut das finnische Schulsystem, in diesem Fall als Paradebeispiel für gelingende inklusive Bildung, hervorheben:

One of the basic principles of Finnish education is that all people must have equal access to high-quality education and training. All citizens should have the same educational opportunities irrespective of their background, such as ethnic origin, age, wealth or where they live.

Finnish education in a nutshell (oph.fi) [15.03.2024]

Um dieses Ziel zu erreichen, ist Bildung in Finnland weitgehend kostenlos. Kostenlos bedeutet nicht nur, dass keine Gebühren für den Besuch der Bildungshäuser an sich erhoben werden, sondern auch, dass die benötigten Materialien, die Versorgung mit Essen und Trinken während des Aufenthalts und die Fahrwege von der Regierung bezahlt werden.

Every child, pupil and student has the right to educational support and welfare services. Equity also means that the potential of each child should be maximised. Teachers and other school staff are required to treat children and young people as individuals and help them proceed according to their own capabilities. Learners should be able to experience success and joy of learning.

 Finnish education in a nutshell (oph.fi) [15.03.2024]

Dieser Zugang zur Förderung und zusätzliche Unterstützung mit sozialen Diensten umfasst sowohl die physische als auch die psychische Gesundheit. Die finnischen Schulen haben direkten Zugang zu Gesundheits- und Krankenpfleger:innen, Zahnärzt:innen, Schulpsycholog:innen und Sozialarbeiter:innen. Darüber hinaus gibt es Zugang zu Beratungen für die Lernenden, um sie in ihren Bildungs- und Karrierewegen zu begleiten. 

Grundsätzlich umfasst Inklusion uns alle. Jede:r von uns hat das Recht auf Teilhabe. Tatsache ist, dass in Deutschland nach wie vor großer Nachholbedarf besteht und dabei ein besonderer Fokus auf Menschen mit Beeinträchtigungen gelegt werden muss. 

2009 verabschiedete die Bundesregierung ein Gesetz, das Menschen mit Behinderung Chancengleichheit auch in der Bildung gewähren soll. In der Konsequenz schließt Deutschland schrittweise sogenannte Förder- und Sonderschulen. Kinder mit besonderem Förder- oder Unterstützungsbedarf nehmen zunehmend an Regelschulen am Unterricht teil. Trotz der Verabschiedung dieses Gesetzes mangelt es den Kitas und Schulen jedoch nach wie vor am Grundsätzlichen – der Ausstattung und den Fachkräften. Die Verfügbarkeit dieser Ressourcen ist eine Voraussetzung dafür, dass Inklusion stattfindet.

In Kanada sind inklusive Schulen mit barrierefreien Gebäuden seit 1986 Pflicht. ‘Davor hatten wir Sonderschulen, die sehr teuer waren und in denen die Kinder ihr Potenzial nicht ausschöpfen konnten’, begründet Ingrid Crowther, Hochschulprofessorin für Lehrerausbildung in Toronto, den Systemwechsel. ‘Die Behinderten konnten nur schwer oder überhaupt nicht in die Gemeinschaft integriert werden. Zudem lernten die anderen Kinder nicht, sich an Kinder mit besonderen Bedürfnissen zu gewöhnen.’
Seit mehr als 30 Jahren lernen nun alle Kinder möglichst in allen Fächern bis zur Klasse neun gemeinsam. Das Miteinander der Schüler ist unabhängig von körperlichem oder geistigem Vermögen ‘für alle selbstverständlich’, sagt Ingrid Crowther.
Denn in jeder Klasse werden alle Schüler, auch die ‘students with special needs’, immer von einem Team – Lehrer, Therapeut, Sonderpädagoge – unterrichtet und begleitet. Die sogenannten Educational Assistants helfen den Kindern oder nehmen sie bei Bedarf aus der Gruppe und weichen zeitweise [sic!] in Extraräume aus, ohne dass der Unterricht unterbrochen oder gestört wird. Ob und wie oft ein solcher Assistent dabei ist, hängt vom individuellen Lernplan der Schüler ab.

 Inklusion in Kanada: Wie läuft es in den Schulen? – DER SPIEGEL [15.02.2024]
Quelle: pexels.com

Darüber hinaus kann jede:r einzelne von uns bereits in seinem eigenen Wirkungskreis an der eigenen Haltung arbeiten, um Inklusion tagtäglich zu leben und die eigenen Mitmenschen in den öffentlichen Raum zu integrieren. Eine solche inklusive Haltung erfordert ein Umdenken, weg vom Defizitären und der Verantwortung des Individuums, sich anzupassen, hin zum Abbau von Barrieren in den Systemen, das fortan die Verantwortung übernimmt, Räume für jede:n zu gestalten:

Es scheint nicht ganz einfach zu sein, Behinderung wirklich neu zu denken, weil damit ja Gesellschaft insgesamt neu gedacht werden muss. Dazu trägt die bisherige Spezialisierung in der Lehrerausbildung nicht unbedingt bei. Erst jüngst wurde in einer Untersuchung über Alltagstheorien zur Behinderung festgestellt, wie schwierig es den Befragten fiel, Vorurteile und Stereotype abzubauen. Dass es eines grundlegenden Bewusstseinswandels bedarf, um angemessene institutionelle Vorgaben für Inklusion zu entwickeln, hatten Tony Booth und Mel Ainscow bereits Ende der 1990er Jahre erkannt. In dem ‘Index für Inklusion’ wird beispielsweise vorgeschlagen, das Konzept des ‘sonderpädagogischen Förderbedarfs’ durch den Begriff ‘Hindernisse für Lernen und Teilhabe’ zu ersetzen. Dadurch wird nicht mehr auf das Individuum und seine Anpassung an gegebene Umstände fokussiert, sondern auf den Abbau der bestehenden Barrieren. Die dem Index angehängten Fragebögen erinnern an finnische Evaluationen, in denen ja auch – in Form deskriptiver Aussagesätze – Bedürfnisse, Stimmungen und Qualitäten erfragt werden. Im Zentrum stehen die Einschätzungen und Sichtweisen der Betroffenen und deren Selbstreflexion. Die Rolle der Professionellen in diesem Feld – Lehrer, Psychologen, Mediziner, Ergotherapeuten, Begleiter – ändert sich dadurch grundlegend. Sie definieren nicht mehr die Förderangebote, sondern die Empfänger von Förderangeboten entscheiden darüber, was sie brauchen und was für sie hilfreich ist. Es geht nicht mehr um das Erfüllen abstrakter Maßstäbe und um Bewertungen von ‘richtig’ oder ‘falsch’, sondern um das Kennenlernen und Ernstnehmen von Bedürfnissen und eine Ausrichtung der Umwelt auf die Zufriedenheit der Menschen, um das Recht auf ein gutes Leben und eine angemessene Begleitung.

 Domisch, Rainer & Klein, Anne (2012): Niemand wird zurückgelassen – Eine Schule für alle. München: Carl Hanser Verlag. S. 161f.
Quelle: pixabay.com

Lenken wir außerdem den Blick bewusst in diesem Kontext auf den frühkindlichen Bereich. Mit dem neu gewonnenen Recht in Deutschland auf einen Kitaplatz steigen die Anforderungen an den frühkindlichen Bereich abermals. Die Kitas haben die Grundschule als den ersten außerfamiliären Bildungsort abgelöst. Entwicklungspsychologisch ist diese frühe Phase der Kindheit außerdem eine besonders sensible Phase, in der Kinder spielerisch leicht lernen und gleichzeitig in hohem Maße auf ihre Bezugspersonen angewiesen sind, zum Beispiel zur Ko-Regulation ihrer Emotionen. Annedore Prengel bringt die Verantwortung von pädagogischen Fachkräften in frühkindlichen Bildungseinrichtungen mit ihrer Pädagogik der Vielfalt auf den Punkt: 

Pädagogik der Vielfalt beruht in allen Arbeitsfeldern der Bildung und Erziehung, einschließlich der Frühpädagogik, auf gemeinsamen Grundlagen, die menschenrechtlich verbindlich, theoretisch fundiert, empirisch erforscht und alltäglich erprobt sind. […]
Kindergartenpädagogik dient demokratischen Entwicklungen, indem Annäherungen an die menschenrechtlichen Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Solidarität angestrebt werden. Wegweisend ist zunächst die Orientierung an Gleichheit, und auch wenn Formulierungen wie ‘jedes Kind’ oder ‘alle Kinder’ genutzt werden, wird alle Kinder einbeziehendes Gleiches angesprochen. Dabei geht es nicht um vollständige Gleichheit im Sinne von Identität und nicht um inhaltliche Gleichheit im Sinne von Angleichung oder Gleichschaltung, sondern um präzise benannte Hinsichten. Gleichheit soll u.a. in folgenden frühpädagogischen Hinsichten angestrebt werden:

  • Gleichheit der Zugangsmöglichkeiten zu frühpädagogischen Institutionen,
  • Gleichheit hinsichtlich der in der Kinderrechtskonvention verbrieften Recht auf Schutz, Förderung und Beteiligung,
  • Gleichheit der Zugangsmöglichkeiten zu für gesellschaftliche Teilhabe zentralen Bildungsbereichen einschließlich der elementaren Kulturtechniken,
  • Gleichheit hinsichtlich der Erfahrung jedes Kindes, von den erwachsenen Erziehenden als wertvolles Mitglied der Kita-Gemeinschaft anerkannt zu werden und einen wertvollen Beitrag dazu zu leisten zu dürfen,
  • Erziehung zu Selbstachtung und wechselseitiger Anerkennung aller Kinder untereinander als gleichberechtigte Mitglieder der Kindergruppe, 
  • Gleichheit jedes Kindes, seine Freiheit nutzen zu dürfen.

Darin, dass menschenrechtliche Freiheit jedem Kind zukommt, zeigt sich der Zusammenhang von Gleichheit und Freiheit, der im grundlegenden Prinzip der gleichen Freiheit gefasst wird. Gleiche Freiheit soll frühpädagogik u.a. in folgenden Hinsichten angestrebt werden:

  • Freiheit jedes Kindes, in seiner Einzigartigkeit anerkannt zu werden; aus der die Freiheit für eine Vielfalt der Lebensformen und Lernwege in der als heterogen anerkannten Kindergruppe folgt,
  • Freiheit jedes Kindes, seinen ureigensten Beitrag zur Gemeinschaft leisten zu dürfen und darin anerkannt zu werden,
  • Freiheit jedes Kindes, nach eigenen Wünschen zu spielen und sich beim Lernen eigenen Themen und Interessen zu widmen,
  • Erziehung zu freiheitlicher Anerkennung aller Kinder untereinander, so dass sie lernen, sich wechselseitig als freie Menschen zu respektieren.

Wenn in intergenerationalen und intragenerationalen Verhältnissen gleiche Freiheit intersubjektiv angestrebt wird, kommt das menschenrechtliche Prinzip der Solidarität zum Tragen. Erwachsene können sich in der Frühpädagogik als solidarisch den Kindern gegenüber u.a. in folgenden Hinsichten erweisen:

  • Solidarität als Verantwortung der Erwachsenen für gesundheits- und entwicklungsfördernde psychische und physische Grundversorgung aller Kinder im Kindergarten,
  • Solidarität der Erwachsenen als verantwortliche Klärung der Hinsichten, in denen Kinder das Recht haben, gleiche Freiheit zu genießen,
  • Solidarität der Erwachsenen als verantwortliche Klärung jener für Teilhabe als wesentlich erachteten kulturellen Errungenschaften, deren Aneignung Kindern (individuell angemessen differenziert) autoritativ-partizipativ zugemutet und deren Transformation ihnen freiheitlich zugestanden wird,
  • Erziehung zu wechselseitiger Solidarität der Kinder untereinander.
Prengel, Annedore (2020): Pädagogik der Vielfalt im Kindergarten – Ein Überblick. S. 32ff. In: König, Anke & Heimlich, Ulrich (Hrsg.) (2020): Inklusion in Kindertageseinrichtungen – eine Frühpädagogik der Vielfalt. Stuttgart: W. Kohlhammer GmbH.

Zweifellos lässt sich diese Pädagogik der Vielfalt auf andere Formen von Bildungseinrichtungen übertragen und weiterführen. 

Das vollständige Buch ist hier kostenlos abrufbar: https://docs.google.com/document/d/1rcobSJ33s-R2APEfEz4DV_9RgW0qzTHy0489LqvXld8/edit?usp=sharing


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