Aus „Bildung 4.0 – Eine Vision für den systemischen Wandel„, von Madita Hänsch

Ich wage die Behauptung, dass den meisten Lesenden bei der Überschrift dieses Kapitels und in dem Zusammenhang des Themas, zuerst der Gedanke kommt, dass wir nun darüber sprechen, wie und warum es wichtig sei, an den eigenen Grenzen entlang zu wachsen. 

Wir werden allerdings eine andere Richtung einschlagen. Die Empfehlung in diesem Kapitel lautet, Grenzen aufzulösen und die Verbundenheit anzuerkennen – während gleichzeitig persönliche Grenzen gewahrt werden müssen. Wir sind Wesen, denen es ein Grundbedürfnis ist, in Verbundenheit zu leben und Autonomie zu erfahren. Wir sind soziale Wesen, die mit anderen zusammenleben möchten, aber gleichzeitig nach Freiheit streben. Auf den ersten Blick erscheint dies wie ein Widerspruch. Doch auf den zweiten Blick erkennen wir, dass wir hier lediglich von den verschiedenen Dimensionen unseres Selbst sprechen. 

Es ist unser Grundrecht, ein Privatleben zu haben, das wir mit niemandem teilen müssen. Es ist unser Grundrecht, Grenzen zu verteidigen, die wir selbst ziehen, um im Umgang mit anderen Menschen nicht verletzt zu werden und unsere Autonomie nicht aufgeben zu müssen. Gleichzeitig streben wir danach, uns mit anderen zu verbinden und auserwählten Menschen besonders nahe zu kommen. Wir sind als Menschen außerdem unglücklich, wenn wir uns zu sehr von der Natur abgrenzen. Wir schüren Hass und Angst und riskieren Isolation, wenn wir uns von anderen Gruppen zu stark abgrenzen.  

Je nachdem, welche Dimension unseres Selbst wir betrachten, ist es unser Ziel, unsere Grenzen zu verteidigen oder sie aufzulösen. Betrachte ich mein Grundbedürfnis nach Autonomie, dann verteidige ich hier meine Grenzen. Betrachte ich mein Grundbedürfnis nach Verbundenheit, dann ist es mein Streben, Grenzen aufzulösen.

Quelle: pexels.com

Im Kontext des Lernraumdesigns für Kita und Schule, ist es die Aufgabe der Lebens- und Lernbegleitungen, ihre Schützlinge darin zu unterstützen, ihre individuelle Balance zwischen der Verteidigung innerer Grenzen und dem Auflösen äußerer Grenzen zu finden, und in der Selbstreflexion diese Grenzen laufend neu zu definieren. 

Im Hinblick auf die Verteidigung innerer Grenzen bedeutet das:

  1. die inneren Grenzen des Schützlings zu respektieren
  2. die Verteidigung der inneren Grenzen des Schützlings gegenüber anderen aktiv zu unterstützen
  3. die Verletzung innerer Grenzen eines Schützlings durch andere nicht zu tolerieren

Beim Auflösen äußerer Grenzen spreche ich tatsächlich nicht von räumlichen oder sozialen Grenzen, sondern von der Abgrenzung des Selbst von seiner Umwelt. Mit Andreas Webers Worten möchte ich dieses Auflösen der Grenzen veranschaulichen:

Nach den Lernprinzipien der Coyote-Schule geht es für die Kinder zunächst nur darum, in der Landschaft zu spielen, dort anwesend zu sein, den Bahnen ihrer Neigungen zu folgen. Ihr Mentor erkundigt sich beiläufig, doch zugleich eindringlich nach allen Details, die sie wahrnehmen. Schlug der See, an dem sie Rast machten, in kleinen Wellen ans Ufer oder in großen? Waren Vögel zu hören? Wie sahen sie aus? Schien die Sonne? Wo stand sie am Himmel? All das sind winzige, fast lächerlich scheinende Einzelheiten, aber eben diese bilden die Buchstaben einer Sprache, in der auch die Empfindung unseres Körpers geschrieben ist. Es ist die Sprache, welche alle Lebewesen, die einen zerbrechlichen, hähebdrüftigen Leib haben, verstehen. Es ist die Sprache, in der Osten die Frische des sich öffnenden Bewusstseins bedeutet, Süden die Intensität der Erkenntnis, Westen das vollendete Werk und die Melancholie des Abschieds, Norden die Ruhe, den Tod und den Keim des Neuen. Es ist die Sprache, der auch unser Körper, ob er will oder nicht, gehorchen muss. die große Geschichte von Aufblühen und Vergehen, von Trauer und Neubeginn, die sich in der Landschaft, also dem gemeinsamen Schicksal aller Lebewesen, ausdrückt und die auch unsere Stimme hören möchte.
Im Grunde hat eine solche Öffnung der Sinne, welche in der Lage ist, noch die leiseste Regung des Lebens aufzufangen, den Charakter einer Meditation. Freilich besteht diese Meditation nicht im Versuch, die Sinne vom ‘Schein der Wirklichkeit’ zu entleeren. Es geht umgekehrt darum, sie mit restloser Aufmerksamkeit anzufüllen. Nicht sich leer von der Welt zu machen und so mit dem ganzen Kosmos zu verschwimmen ist das Ziel, sondern sich so weit mit Wirklichkeit anzufüllen, dass sich die Grenze zwischen innen und außen aufzulösen beginnt – etwa die zwischen den inneren Vorstellungen von Regen und dem kalten Kitzeln der Tropfen auf der Haut. Es geht darum, den Körper wieder der Welt einzuschreiben, der er entstammt. Es geht um ein Denken mit allen Sinnen, eine Imagination als Fühlen, nicht als Analyse.

 Weber (2014): S. 155f.

Wir erinnern uns, dass unser Gehirn dann nachhaltig lernt, wenn es den Lerngegenstand als relevant einstuft. Relevant ist, womit wir uns verbunden fühlen, was eine Resonanz in uns auslöst. Der Lernprozess selbst, also das Speichern einer Erfahrung, einer Erinnerung in unserem Gehirn, verläuft so ab, dass wir nicht die Information als solche ablegen, wie wir sie auf einer Festplatte ablegen, sondern dass der Abdruck, der Erfahrung, das emotionale Muster, gespeichert wird. Und dieses Muster wird rekonstruiert, wenn wir die Erinnerung abrufen. 

Fühlen kommt vor dem Denken

Am ehesten fördern wir diese Verbundenheit, indem wir unseren Schützlingen im frühkindlichen und kindlichen Alter genug Raum und Zeit in der Natur und beim freien Spiel ermöglichen, damit sie ihre Lebendigkeit und Körperlichkeit ganzheitlich erfahren können.

Das vollständige Buch ist hier kostenlos abrufbar: https://docs.google.com/document/d/15bTj8qyzC0HLpzr6ETigBSrhdXqIsEUIkW0uQKB5z8w/edit?usp=sharing


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