Aus „Bildung 4.0 – Eine Vision für den systemischen Wandel„, von Madita Hänsch
Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen ist ein Sprichwort afrikanischen Ursprungs. Es bedeutet, dass die Verantwortung für die Erziehung eines Kindes nicht allein bei den Eltern liegt, sondern dass die gesamte Gemeinschaft dazu beitragen sollte, ein Kind darin zu unterstützen, zu lernen, zu wachsen und sich zu entfalten.
In Bezug auf das Lernraumdesign möchte ich in diesem Kapitel den Fokus darauf legen, die Lebenswelten meiner Lernenden einzubeziehen, mir die Ressourcen des Dorfes zunutze zu machen und mich der Methoden des phänomenbasierten (vgl. Phänomen-Basiertes Lernen – Das können wir uns von Finnland abschauen (lehrer-news.de) [06.03.2024]) und projektorientierten (vgl. Microsoft Word – hul-adp-projektorientiertes-lernen-2022-10-11.docx (uni-hamburg.de) [06.03.2024]) Lernens zu bedienen, um möglichst realitätsnahe Lernräume zu schaffen.
Aktuell stellen sich Bildungshäuser als vornehmlich von ihrer Umwelt isolierte Gebäude dar, die auch in ihrer Konzeption und ihren Lernplänen wenig bis keine Schnittstellen zur Außenwelt bieten. Gerade für die Zielgruppen Kinder und Jugendliche wird dafür das Argument vorgebracht, ihnen damit Schutzräume zu bieten.
Doch zum einen versagt das System kolossal darin, als Schutzraum tatsächlich zu fungieren, und zum anderen ist damit unseren Schützlingen nicht geholfen, weil es unser Auftrag ist, sie auf die reale Welt vorzubereiten und sie dazu zu befähigen, sich darin selbstwirksam bewegen zu können.
Anstatt eine Isolation der Bildungshäuser anzustreben, empfehle ich daher, eher eine schützende Membran anzuwenden, die durchlässig bleibt für die Einflüsse der realen Welt. Diese Membran sollte auch kein Filter sein, der nur “unschädliche” Einflüsse zulässt. Stattdessen stellen wir sie uns als eine unsichtbare Grenze vor, die wir mithilfe unserer Verantwortung als Lebens- und Lernbegleitungen ziehen. Anstatt isolierter Schutzräume bieten wir Rückzugsräume, Experimentierräume und Begegnungsräume, in denen wir die Rahmenbedingungen bestimmen, sodass die “schädlichen” Einflüsse soweit an Macht verlieren, damit sich unsere Schützlinge mit ihnen auseinandersetzen können, den Umgang mit ihnen lernen können, ohne sich unnötigen Risiken auszusetzen – genauso, wie wir Schutzkleidung anziehen, bevor wir im Chemieunterricht experimentieren, aber nicht, indem wir die Experimente nur in der Theorie behandeln.
Indem ich die Isolierung aufgebe und stattdessen gezielt und strategisch die Integration der Außenwelt in meinem Lernraum vornehme, werde ich nicht nur den Bedürfnissen meiner Lernenden gerecht und ermögliche ihnen das Wachstum ihrer Selbstwirksamkeit, ich kann mir außerdem die dort vorhandenen Ressourcen zunutze machen:
- Expert:innen einladen
- Arbeitsorte besuchen
- Makerspaces, Bibliotheken u.ä. nutzen
- Kooperationen mit Vereinen und anderen gemeinnützigen Bildungseinrichtungen eingehen
- Partnerschulen besuchen
Anstatt die Welt künstlich zu fragmentieren und in Fächern zu kategorisieren, empfehle ich das phänomenbasierte und projektorientierte Lernen. Nicht nur deshalb, weil die Natur zu komplex ist, als dass wir sie in dieser fragmentierten Darstellung zu erfassen vermögen, sondern auch, weil die Arbeitswelt an Komplexität zugenommen hat und ein in Fächern fragmentierter Unterricht nicht adäquat auf das Arbeitsleben vorbereiten kann.
In der Medizin brauchen wir Menschen, die die Zusammenhänge von Ernährung, Bewegung, Umweltfaktoren, Pharmazie, Psychologie und Physiologie erfassen können, um ihren Patient:innen die bestmögliche Versorgung anzubieten. In der Industrie brauchen wir Ingenieure, die verstehen, wie sie bedürfnisorientiert, zugleich nachhaltig und ressourcenschonend, aber auch innovativ und gewinnbringend ihre Produkte entwickeln können. Auf der Führungsebene brauchen wir Menschen, die Unternehmensstrategie, rechtliche Rahmenbedingungen und die Bedürfnisse ihrer Mitarbeitenden gleichberechtigt berücksichtigen können. Und so weiter.
Jeden Tag findet in der Arbeitswelt phänomenbasiertes und projektorientiertes Handeln statt. Ein Unternehmen, das Roboter entwickelt und produziert, braucht Expertise in den Bereichen Mathematik, Informatik, Mechanik, Elektrik, Ethik und Design, die alle zusammenarbeiten. Es braucht sowohl Spezialisten, die in die Tiefe gehen können, als auch Generalisten, die die Schnittstellen koordinieren können. Und von jedem einzelnen Menschen werden Fähigkeiten und Kompetenzen auf der Metaebene, vor allem zur Teamarbeit, verlangt.
Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, brauchen wir in der Bildung keine neuen Schulfächer mit Kategorien wie “Achtsamkeit” oder “MINT” oder “kreative Künste” etc. Wir brauchen Lernräume, in denen die Komplexität unserer Umwelt ebenso selbstverständlich wie natürlich abgebildet und aktiv integriert wird.
Außerdem lernt der Mensch dann erfolgreich, wenn der Lerngegenstand in seine Kontexte eingebettet werden kann. Unser Gehirn besteht aus seinen neuronalen Verbindungen. Wenn ein Mensch etwas nachhaltig gelernt hat, dann deshalb, weil sich neue Verbindungen in seinem neuronalen Netz gebildet haben. Eine solche neu gewonnene Verknüpfung muss dabei immer an etwas bereits existierendem anknüpfen können.
Deshalb ist das Lernen besonders erfolgreich, wenn ich meinen Lernenden Geschichten über den Lerngegenstand erzähle. Geschichten, mit denen sie sich identifizieren können und die in ihre Lebenswelten passen. Im Jahre 2024 kann ich Jugendliche also besonders gut in ihren Medienkompetenzen schulen, wenn wir uns gemeinsam mit Apps wie TikTok und Snapchat auseinandersetzen – aber sicherlich nicht, indem wir gemeinsam die Tagesschau konsumieren.
Die abschließende Empfehlung für dieses Kapitel lautet, den Lernenden den Raum zu geben, um ins Handeln zu kommen. Lernen ist ein Prozess des Begreifens meiner inneren und äußeren Welten. Wenn ich einen Mechaniker in allen Theorien des Schraubenziehers ausgebildet habe, ist er im Anschluss dennoch kein Meister darin, geschickt und effizient zu schrauben. Ebenso wenig wie eine Musikerin zur Meisterin wird, indem sie ausschließlich die Noten lesen und komponieren kann, während sie noch nie ein einziges Instrument selbst gespielt hat. Und auch im Dienstleistungssektor werden Menschen erst dann richtig gut in ihrem Job, je länger und öfter sie die dazugehörigen Methoden und Praktiken anwenden. Menschen müssen Fehler machen, aus ihnen lernen dürfen, Erfahrungen sammeln, vielfältige Anwendungsbeispiele kennenlernen usw., um Meister:innen in ihrem Bereich werden zu können.
Wenn ich also mit meinen Lernenden den Gegenstand Ökosystem Wald behandle, ohne ein einziges Mal den Wald zu betreten, dann habe ich gerade einmal 10 bis 30% des Lernpotenzials abgerufen, das ihnen zur Verfügung steht – es ist mir auch nicht damit geholfen, wenn ich ihnen Blätter und andere Materialien aus dem Wald ins Klassenzimmer bringe, damit sie es dort untersuchen können. Ich schöpfe dann das volle Lernpotenzial aus, wenn meine Lernenden zuerst frei den Wald mit all ihren Sinnen erkunden und ihre Materialien selbst sammeln können, die sie anschließend im Labor umfangreich untersuchen können, und ich dann ihre Fragen aufgreife, um ihnen zu helfen, diese entdeckten Einzelteile in den größeren Kontext des Ökosystems Wald zu setzen. Und am besten wiederhole ich diese Aktion einmal zu jeder Jahreszeit. In einem höheren Jahrgang kann ich dann auf diese Grundlagen aufbauen, um mich zum Beispiel mit dem Klimawandel auseinanderzusetzen und der Rolle, die Wälder im Klimaschutz spielen. Und so weiter.
Wenn meine Lernenden dann als junge Erwachsene die Schule verlassen und als Mediziner:innen, Ingenieur:innen, Pfleger:innen, etc. anfangen zu arbeiten, verstehen sie, welche Rolle das Ökosystem Wald für ihre Arbeit spielt. Sie kennen die positiven Einflüsse des Waldes auf die Gesundheit. Sie verstehen, welchen Einfluss ihre Produktion auf den Wald ausübt, und welche Schutzmaßnahmen sie deshalb ergreifen müssen – oder wie sie die Ressourcen des Waldes nachhaltig für die Produktion einsetzen können – und so weiter.
Es ist schon heute in vielen Bundesländern den Schulen freigestellt, von dem klassischen Fächerkanon abzuweichen und in alternativen Formaten zu lernen. Der FREI DAY ist eins von vielen Beispielen dazu.
Das vollständige Buch ist hier kostenlos abrufbar: https://docs.google.com/document/d/1rcobSJ33s-R2APEfEz4DV_9RgW0qzTHy0489LqvXld8/edit?usp=sharing
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