Der wertfreie Raum

Aus „Bildung 4.0 – Eine Vision für den systemischen Wandel“, von Madita Hänsch

Lehrer haben ein großes Gewicht. Das kann Kinder klein machen, das kann sie groß machen: wenn wir sie anerkennen [sic!], ermutigen, wenn wir menschlich aufmerksam sind, wenn wir Lehrer-Sein als helfenden Beruf auffassen. Das gehört nicht zum Selbstverständnis deutscher Schulen. 70 – 80 Prozent der Schüler beurteilen ihr Befinden im Unterricht negativ.

 Singer, Kurt (2006): Wenn Lehrer Schüler seelisch verletzen – Ist die Würde des Schülers antastbar? Universität Regensburg, Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Lehrstuhl für Pädagogik – Symposium: Macht die Schule Schüler und Lehrer krank? 18.11.06. S. 2.

In Schulsystemen von jenen Ländern, die nach PISA erfolgreich sind, werden Noten erst in den Abschlussjahrgängen erteilt – neben einer Vielzahl weiterer Unterschiede, die wir im Laufe bereits vereinzelt beleuchtet haben. Doch neben dem Erfolg anderer Schulsysteme, die hervorragend ohne Noten auskommen steht außerdem die Tatsache, dass Noten an ihrem Auftrag, objektiven Leistungsvergleich zu ermöglichen, schlichtweg scheitern, wie zahlreiche Studien belegen, und sogar in vielerlei Hinsicht den Schüler:innen systematisch Schaden zufügen. Denn Noten sind ein wertendes Urteil, dass die Lehrkraft über eine:n Schüler:in fällt. Wie groß der Einfluss der Meinung einer Lehrkraft auf die Schüler:innen ist, soll das eingangs angeführte Zitat verdeutlichen. Mit dem Folgenden möchte ich diesen Mechanismus noch einmal vertiefen: 

In Schulsystemen von Ländern, deren Schüler gute Leistungen aufzeigen, werden das emotionale Erleben und die soziale Kontaktaufnahme ernst genommen. Bei uns erleben viele Jugendliche die Lehrer-Schüler-Beziehung als distanziert und Macht behauptend. […]

Die ‘Erziehung’ der Lehrer wird Kindern durch eine unzureichende Lehrerausbildung verweigert. In ihr geht es um ‘Lerngegenstände’, nicht um Kinder, nicht um die Person des Lehrers. Die Wissenschaft vom Menschen spielt kaum eine Rolle: Pädagogik, Entwicklungs- und Lernpsychologie, Neurobiologie, Philosophie, Sozialpädagogik, Tiefenpsychologie.Lehramts-Studierende haben in ihrer Ausbildung nicht gelernt, mit Menschen umzugehen. Sie kommen dann in die Schule, und es sitzen plötzlich – oh Schreck – Kinder vor ihnen, wo sie doch alles über Sachen gelernt haben. Weil sie nicht lernten pädagogisch zu handeln, verfallen sie leicht dem Machtprinzip. Sie wissen sich nicht anders zu helfen, als Schüler durch ihre Lehrer-Überlegenheit zu zwingen. Aber über eine Schulklasse Macht auszuüben, ist anstrengend; kein Wunder, dass so viele Lehrer krank werden. Die ‘Krankheit der Macht’ schädigt nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehrer selbst. Es schädigt sie die der Macht innewohnende Gleichgültigkeit und Rücksichtslosigkeit und der damit verbundene Verlust an Sympathie von Seiten der Schüler. Sie unterrichten dann als ‘Lehrplan-Vollzugsbeamte: Schließlich muss ich meinen Stoff durchnehmen’. Die Kränkung, in einem Klima ohne Sympathie, ohne Freude unterrichten zu müssen, ist in meinen Lehrergruppen oft ein bewegendes Thema.
Für die seelische Gesundheit von Schülern und Lehrern muss die Lehrerausbildung zum Erfahrungsraum werden für all das, was Lehrerinnen und Lehrern hilft, Jugendliche zu verstehen, Lern- und Entwicklungsprozesse zu unterstützen. Dazu gehört auch, sich eingehend mit der eigenen Lehrer-Lerngeschichte zu befassen. Unterricht wird dann zur helfenden Beziehung.

 Singer (2006): S. 9f.
Quelle: pixabay.com

Kinder lernen, weil sie sich entwickeln möchten, weil sie erleben möchten, dass sie lebendig sind. Ab dem Moment, wenn wir Erwachsenen beginnen, sie mit Belohnungen, Lob oder Anerkennung zu motivieren, noch mehr zu lernen, beginnt ein Dilemma. Wir Erwachsenen haben dabei nur Gutes im Sinn. Wir möchten, dass unsere Sprösslinge die besten Startchancen erhalten, dass sie im Laufe ihres jungen Lebens all die Fördermöglichkeiten bekommen, die ihnen zustehen. Wir möchten, denn so ist unsere Gesellschaft gestrickt, dass sie in der Leiter des Erfolgs möglichst schnell sehr weit nach oben kommen, indem sie einen guten Schulabschluss erreichen. Wir wissen, dass ihr Leben in der Leistungsgesellschaft einem fortwährenden Wettbewerb ausgesetzt ist, und darauf möchten wir sie bestmöglich vorbereiten. Und das tun wir mit Hilfe der Mittel, die nach unserer eigenen Lebenserfahrung auch uns geholfen haben.

Dabei weiß die Wissenschaft schon länger, dass die intrinsische Motivation zum Lernen stärker und nachhaltiger wirkt, als die extrinsische:

Intrinsische Motivation: Die intrinsische Motivation entspringt der inneren Freude und dem persönlichen Interesse an einer Aufgabe. Personen, die intrinsisch motiviert sind, zeigen eine höhere Zufriedenheit mit ihrer Tätigkeit, verfolgen Ziele hartnäckiger, freuen sich mehr über Erfolge und können Misserfolge besser verkraften. Intrinsisch motivierte Personen sind auch bereit, mehr persönlichen Einsatz zu zeigen, was sich positiv auf die Arbeitsleistung und die Qualität der Arbeit auswirken kann.
Extrinsische Motivation: Im Gegensatz dazu bezieht sich die extrinsische Motivation auf äußere Anreize wie finanzielle Belohnungen, Lob oder Anerkennung. Extrinsisch motivierte Personen handeln, um externe Belohnungen zu erhalten. Diese Art der Motivation kann als Initialzündung dienen und kurzfristig zu Leistungssteigerungen führen. Allerdings kann sie langfristig nicht so nachhaltig sein wie die intrinsische Motivation.

 https://www.perplexity.ai/search/How-does-school-rddg6NWPS6S5WqqS8sTwgA#53 [13.03.2024]

Vor allen Dingen die Bewertung durch Noten und die Belohnung mit Zertifikaten und Abschlüssen verlagert systematisch die Motivation zum Lernen vom Inneren ins Äußere. Wir erziehen unsere Kinder im Kontext des Lernens dahin, dass sie Wissen haben wollen, anstatt wissend zu sein (vgl. Fromm S. 59).

Hier liegt die Verwechslung, der viele neue pädagogische Konzepte aufsitzen – gerade jene, in denen Naturerfahrungen eine wichtig Rolle spielen. Sie werfen etwas Entscheidendes durcheinander: das Glück der Erfahrung, dass ein Lebenswachstum im eigenen Recht ist, und der Nutzen, den dieses Wachstum mit sich bringt. Wichtig ist das Reifen nicht wegen der darin enthaltenen Erkenntnisse, sondern weil es Wachstum ist. Wer Kinder als kleine Wissenschaftler auffasst, folgt dem zentralen Fehler der gegenwärtigen Forschung: dass nämlich alles eine Dienlichkeit habe, alle Erfahrungen in Wahrheit eine Funktion trügen. So macht man die inneren Impulse zu Mitteln für den pädagogischen Zweck. Der Kontakt mit den Dingen wird zur Ressource, um ein späteres erfolgreiches ‘Forscherleben’ vorzubereiten. Bei einer solchen Auffassung existiert keine Naturerfahrung, keine Erfahrung der Lebendigkeit, im eigenen Recht. Jedes gefühlte Interesse des Kindes an anderen Wesen ist bloßer Schein des Zweckes. So zu denken erinnert an die Annahme Piagets, der nützliche (aber irrige) Animismus der Kinder werde schon verfliegen und einer reifen Rationalität Platz machen. Wer aber Kinder so erzieht, setzt darauf, sie zu überrumpeln und handelt nach der unausgesprochenen Überzeugung: ‘Nur mit Naturerfahrung wird mein Kind richtig fit für PISA.’
Was ein Kind aber sucht, ist die Unmittelbarkeit des Welterlebnisses, in dem es nicht um Lernerfolge geht. Das Kind öffnet sich hin zur Welt und erschließt sich so die Wirklichkeit. Nur Lernen, das im Dienste dieser Öffentlichkeit steht, ist gutes Lernen. Nur so aufgenommene Inhalte werden behalten, weil sie überhaupt Inhalte sind und nicht leere Hülsen. Sie gehen als organische Elemente in das neue Gebäude ein, welches das Kind, unbewusst wachsend, aus sich entwirft.
Aber heute ist diese Suche nach Poesie gestört. Heute scheint es endlich gelungen, den Sinn des klassischen Sprichworts umzukehren. Unsere Kinder lernen immer häufiger nicht, um zu leben, als Teil des Lebens, das sie sich erschließen, sondern sie leben, um zu lernen. Wir haben sie ausgesperrt von der Unmittelbarkeit des Nichts, in dem sich die Lebendigkeit verbirgt, das Lachen, das ewige Mysterium unseres Hierseins. Schon der populäre Begriff ‘lebenslanges Lernen’ klingt wie ‘lebenslänglich’ – eine endlose Strafe, auf die es keine Bewährung gibt.

 Weber (2014): S. 148f.
Quelle: pixabay.com

Anstatt zu bewerten, egal ob mit Ziffernnoten oder schriftlich ausformulierten standardisierten Sätzen, empfehle ich daher, den Kindern dabei zu helfen, Schritt für Schritt und altersgerecht zu lernen, sich selbst zu reflektieren, und sich selbst in und mit anderen zu reflektieren. Ersetzen wir die Zeugnisse durch Feedback-Gespräche, die mit wertschätzender Kommunikation stattfinden, und in denen sich die Lernbegleitungen als Coaches verstehen, die den Lernenden dabei helfen, sich selbst zu erkennen, ihre Stärken, ihre Schwächen, und ihnen helfen, aus ihren Fehlern zu lernen.

Spätestens durch den Einzug von Künstlicher Intelligenz ist es so offensichtlich wie nie zuvor, dass das Auswendiglernen und Wiedergeben von Informationen im Gleichschritt und nach standardisierten Leistungsmaßstäben obsolet geworden ist. Das, was den Menschen im Gegensatz zur KI noch erfolgreich macht, sind seine ihm angeborenen Fähigkeiten zur Kreativität, Kommunikation und Kooperation. Unsere Schüler:innen sind den Erwachsenen dabei einen Schritt voraus, wie eine neue Studie der Vodafone Stiftung offenbart:

An die Sorge der fehlenden Unterscheidbarkeit der eigenen Leistungen von den Leistungen der KI schließt sich der Wunsch an, dass Prüfungsformate zukünftig stärker Anwendungs- und Problemlösungskompetenzen testen sollen, statt auswendig gelerntes Wissen abzufragen (59 Prozent). Zudem wünschen sich die Befragten, dass nicht nur der Unterricht entsprechend der individuellen Lernniveaus gestaltet, sondern auch Prüfungen binnendifferenziert gestaltet werden sollen (52 Prozent). Die Nutzung von KI-Systemen durch die Prüflinge sehen die befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen hingegen eher kritisch, nur 21 Prozent befürworten dies.

 Pioniere-des-Wandels-wie-Schueler-innen-KI-im-Unterricht-nutzen-wollen-Jugendstudie-der-VS-2024.pdf (vodafone-stiftung.de) [13.03.2024]

Das vollständige Buch ist hier kostenlos abrufbar: https://docs.google.com/document/d/15bTj8qyzC0HLpzr6ETigBSrhdXqIsEUIkW0uQKB5z8w/edit?usp=sharing


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