Aus „Bildung 4.0 – Eine Vision für den systemischen Wandel„, von Madita Hänsch
Sobald ich einen Raum betrete, in dem sich Mitmenschen aufhalten, beeinflusst meine Körpersprache unbewusst die Stimmung der anderen im Raum. Ich kann meine Körpersprache bewusst steuern, aber je sensibler die Antennen meiner Mitmenschen sind, desto eher gelingt es ihnen, hinter meine Fassade zu schauen und meine wahre Stimmung zu erkennen. Der Mensch kann nicht nicht kommunizieren, lautet das berühmte Zitat von Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick (vgl. Paul Watzlawick – Wikipedia [05.03.2024])
Als Lernbegleitung kommt mir eine besondere Verantwortung zu, wenn ich einen Lernraum betrete, in dem sich meine Lernenden aufhalten. Ich kann sie mit meiner Energie begeistern und motivieren, ich kann Spannungen lösen und Ruhe erzeugen, ich kann Offenheit zeigen und den Raum erweitern, oder ihn begrenzen, wenn nötig. Dies erfordert eine hohe emotionale (vgl. Goleman, Daniel (1997): EQ – Emotionale Intelligenz. München: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG.) und soziale (vgl. Goleman, Daniel (2006): Soziale Intelligenz – Wer auf andere zugehen kann, hat mehr vom Leben. München: Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG.) Intelligenz von mir – Empathie allein reicht hier nicht aus. Über meine Fähigkeit der Empathie hinaus, mit der ich die non-verbalen und paraverbalen Signale meiner Mitmenschen wahrnehmen kann, setze ich mein soziales Bewusstsein, meine sozialen Fertigkeiten und meine emotionale Intelligenz dafür ein, um die Resonanzen des Lernraums so zu beeinflussen, dass sie bestmögliche Rahmenbedingungen zur Förderung von erfolgreichen Lernprozessen darstellen.
Nehme ich beispielsweise wahr, dass meine Lernenden unruhig und unkonzentriert sind, ist es meine Aufgabe, für Ruhe und Konzentration zu sorgen. Dafür ist es wichtig, den Grund für die Unruhe in Erfahrung zu bringen: Ist es Besorgnis? Ist es Angst? Ist es Wut? Je nach Ursache verlangt die Situation eine entsprechende Antwort von mir, um die Stimmung positiv zu beeinflussen – würde ich auf Wut mit Strenge reagieren, verstärkte ich bloß die Wut.
Aktives Zuhören ist ein grundsätzlich wertvolles Werkzeug, um den Resonanzraum zu gestalten. Denn ich kann zwar empathisch Stimmungen wahrnehmen, jedoch nicht telepathisch in die Köpfe meiner Mitmenschen schauen. Es ist wichtig, aktiv im Dialog auf die Bedürfnisse der Lernenden einzugehen, um eine angemessene Antwort darauf zu finden und die nötigen Voraussetzungen zu schaffen, um Lernen zu ermöglichen. Ein Morgenkreis in der Primarschule oder ein Check-In in höheren Klassenstufen sind nur zwei von zahlreichen Beispielen für Methoden, die zu Beginn einer Lerneinheit Anwendung finden können, um den Boden zu bereiten.
Neben meiner Empathie und sozialer und emotionaler Intelligenz stellt meine persönliche Haltung, meine Identifikation mit der Rolle, die ich einnehme, meine mentalen Modelle, einen weiteren Einflussfaktor dar, der den Resonanzraum gestaltet. Im Folgenden ein Beispiel von Lehrerin und Autorin Sabine Czerny:
dass ich mich als Pädagogin so verhalte, dass das Kind seinen Platz in seinem Leben einnimmt. Man hilft dem Kind, diesen Platz zu finden und verantwortlich zu werden. Als Pädagogin bereite ich das Kind gleichzeitig auf sein Wirken vor […] Jeder Mensch ist schlussendlich für sein Leben, sein Handeln und Wirken verantwortlich, doch zu wenige haben gelernt, diese Verantwortung wirklich zu übernehmen. Das entspricht dem König, der Sorge trägt für sein Königreich, der darauf achtet, dass es seinem Volk – dem Körper, dem Geist, seinem Besitz, seinen Fähigkeiten und Kompetenzen – stets gut geht. Der gesunde Außenbeziehungen führt. Der erkennt, wo es Probleme in seinem Königreich gibt, um sich dann verantwortungsvoll darum zu kümmern. Der insbesondere die Übersicht über all das behält und umsichtig und vorausschauend sein Königreich, sein Leben leitet. Es gilt also, sich als Erzieher im Umgang mit einem Kind immer wieder zu fragen: ‚Was benötigst du jetzt und für dein späteres Leben?‘ Dabei muss der Pädagoge stets beachten, dass ein Mensch vor allem anderen seine Identität und seine Integrität braucht. Auf der Basis eines gesunden Selbstgefühls gilt es eine Selbstkompetenz zu entwickeln und darüber hinaus soziale und fachliche Kompetenzen zu erwerben.
Czerny, Sabine (2010): Was wir unseren Kindern in der Schule antun – und wie wir das ändern können. München: Südwest Verlag. S. 226.
Welche Erwartungen stelle ich an die Lernenden? Meine Haltung bestimmt die Antwort auf diese Frage. Für größtmögliche Ergebnisoffenheit und Bewegungsfreiheit schraube ich meine Erwartungen soweit es geht zurück. Wenn meine Lernenden auf meine gezielte Anleitung angewiesen sind, gebe ich stattdessen die Richtung vor. Orientiert an den Entwicklungsstufen des Menschen, sollte die Tendenz mit zunehmendem Alter der Lernenden (von frühkindlicher Entwicklung zum Erwachsenenleben) dahin gehen, den Freiraum zu vergrößern und die Selbstständigkeit damit zu fördern.
Fassen wir noch einmal zusammen: Ich habe die Bedürfnisse meiner Lernenden erkannt, indem ich zum Beispiel einen Check-In angewandt habe, und in der Folge meine Erwartungshaltung angepasst. Ich habe außerdem meine Fähigkeiten eingesetzt, um die Stimmung positiv zu beeinflussen und mich dafür einer passenden Methode bedient, zum Beispiel einer kurzen Meditation, um Ruhe zu erzeugen und die Konzentration zu steigern.
In der restlichen Lernzeit, die mir und meinen Lernenden zur Verfügung steht, kann ich nun mein wohl überlegtes und im Voraus zusammengestelltes Repertoire an Werkzeugen entfalten, um den Lernprozess zu starten und meine Lernenden im Folgenden bestmöglich dabei zu unterstützen, zu ihren Lernzielen zu gelangen. Dabei werde ich kontinuierlich die Stimmung bewerten, ggf. nachsteuern und Achtsamkeit wahren, damit die Resonanz weiterhin harmonisch aufrechterhalten wird:
Ein Bildungsgeschehen im resonanztheoretischen Sinne entwickelt sich mithin dort, wo Schüler einem Stoff intrinsisches Interesse entgegenbringen und in der Auseinandersetzung mit ihm Selbstwirksamkeit erfahren – und es wird nicht zuletzt durch die Belebung der Resonanzachse zwischen Schüler und Lehrer ermöglicht. Der Bildungsvorgang als Welterschließungsvorgang beginnt mit der Begeisterung des Lehrers, der quasi als erste Stimmgabel die Resonanzbereitschaft seiner Schüler weckt, so dass im Resonanzgeschehen zwischen Schüler und Lehrer der Stoff (Sei es das antike Drama, die mathematische Formel, die fremdsprachliche Grammatikregel oder das zu studierende Parteiprogramm) zum Sprechen gebracht beziehungsweise zum Leben erweckt wird. Was auf diese Weise vielleicht allzu poetisch klingen mag, ist im Grunde ein nahezu alltäglicher Vorgang, der sich an jedem Schultag und in jeder Schule hundertfach und immer wieder von Neuem vollzieht.
Das Resonanzdreieck als Paradigma gelingenden Unterrichts ist mithin also dort ausgebildet, wo Schüler und Lehrer sich, als erste Bedingung, wechselseitig zu erreichen vermögen. Dies setzt voraus, dass der Lehrer davon überzeugt ist, seinen Schülern etwas zu sagen zu haben und von diesen auch gehört werden zu wollen. Das Gleiche gilt für die Schüler: Ohne das Vertrauen, etwas beitragen zu können und entgegenkommendes Gehör zu finden, kann sich die Resonanzachse nicht öffnen. Angstfreiheit ist eine Grundbedingung für das Sich-Einlassen auf Resonanzbeziehungen. Diese Bedingung lässt sich nicht in jeder Situation ohne weiteres erfüllen, erforderte sie doch ein Mindestmaß an bereits vorhandenen Selbstwirksamkeitserwartungen und an wechselseitigem Vertrauen, ohne dass [sic!] sich die Bereitschaft, sich erreichen zu lassen (auch auf Seiten des Lehrenden), nicht einstellt.
Rosa (2018): S. 412f.
Das vollständige Buch ist hier kostenlos abrufbar: https://docs.google.com/document/d/15bTj8qyzC0HLpzr6ETigBSrhdXqIsEUIkW0uQKB5z8w/edit?usp=sharing
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