Selbstorganisation und Selbstwirksamkeit

Aus „Bildung 4.0 – Eine Vision für den systemischen Wandel„, von Madita Hänsch

“Werde, der du bist” war das Motto des Ratsgymnasiums Wolfsburg, der Schule, an der ich mein Abitur machte. Dieses Gymnasium war ein ganz normales Gymnasium, ohne ein besonderes Konzept. In dieser Schule begann der Unterricht um 7.45 Uhr. Jede Schulstunde lief 45 Minuten lang. Es gab für Hauptfächer oftmals Doppelstunden, seltener für die Nebenfächer. Für das Abitur bot die Schule alle fachlichen Schwerpunkte an, die zu der Zeit in Niedersachsen möglich waren (sprachlich, naturwissenschaftlich, musisch-künstlerisch, gesellschaftswissenschaftlich, sportlich). Erst am Tag der Anmeldung erfuhr ich von zusätzlichen Angeboten wie einer Schülerzeitung, oder der Schülerfirma, dass die Schule am Comenius-Projekt teilnahm, etc. Es gab also von den Lehrkräften ein gewisses Engagement an diesem Gymnasium. Ansonsten war es ein ganz normales Gymnasium, an dem es für jede Schulstunde eine mündliche Bewertung gab, in jedem Fach mindestens eine Klausur pro Halbjahr, etc.

Weil ich mich selbst dazu entschieden hatte, nach der 8. Klasse die Schule wechseln zu wollen, schaute ich mir die Webseite der Schule an. Und deshalb stieß ich von alleine auf dieses Schulmotto. Denn die Schule bewarb dieses Motto nicht. Meine neuen Mitschüler:innen kannten es nicht. Sicherlich auch nicht alle Lehrkräfte. Aber es war da und es inspirierte mich. Ich dachte oft darüber nach. “Werde, der du bist” löste in mir das Gefühl aus, dass ich an diesem Ort eine Antwort darauf erfahren könnte. Das motivierte mich dazu, zu lernen. Außerdem waren im Vergleich zu der vorherigen Schule die Lehrkräfte definitiv engagierter und zum ersten Mal kam ich zum Beispiel in den Genuss einer Notenbesprechung. Fast alle Lehrkräfte nahmen sich zum Ende jeden Halbjahres während einer Unterrichtsstunde Zeit, mit allen Schüler:innen einzeln die Noten zu besprechen und gaben ihnen Ratschläge, wie sie sich noch bis zum Zeugnis verbessern konnten. Ich fühlte mich wahrgenommen und gehört. Und das spornte mich noch mehr an. 

Ich könnte jetzt noch weiter ausführen, dass ich von meinem sozialen Status profitierte, die Lehrkräfte mir deshalb mehr Aufmerksamkeit zukommen ließen, als manchen meiner Mitschüler:innen, etc. Worauf ich hinaus möchte, ist, dass diese Anerkennung seitens der Lehrkräfte, verbunden mit diesem Schulmotto meinen Lernprozess positiv beeinflussten. Mit der Schülerzeitung fand ich außerdem einen Raum im Kontext Schule, in dem ich einige meiner Fähigkeiten entfalten konnte, die der Lehrplan nicht abfragte. In diesem Raum durfte ich selbstwirksam und weitestgehend selbstorganisiert lernen. Der positive Effekt strahlte insgesamt auf meinen gesamten Schulaufenthalt. Ich hatte einen Raum, in dem ich frei von Leistungsdruck, aus Spaß an der Tätigkeit, glänzen konnte. Diese Bedingungen erleichterten mir den stressigen Weg zum Abitur. Ich ging voller Selbstbewusstsein in die Abiturprüfungen und schaffte es, mit sehr guten Ergebnissen, meine Abschlussnote dramatisch zu verbessern. Weshalb ich niemals vergessen werde, wie ich beinahe vom Stuhl fiel, als mir meine Abschlussnote mitgeteilt wurde – damit hatte ich schlichtweg nicht gerechnet.  

“Hilf mir, es selbst zu tun”, ist ein weltbekanntes Zitat von Maria Montessori. Es begegnete mir erst ein paar Jahre nach meinem Abitur. Montessoris Pädagogik ist prädestiniert für die Selbstwirksamkeit und Selbstorganisation, den selbstschöpferischen Freiräumen, die sie den Kindern lässt:

“Das ganze unbewußte Streben des Kindes geht dahin, sich durch die Loslösung vom Erwachsenen und durch Selbstständigkeit zur freien Persönlichkeit zu entwickeln.” (Montessori, Maria (1965): Grundlagen meiner Pädagogik. Wiebelsheim: Quelle & Meyer Verlag GmbH & Co. S. 11.).

Der eigentliche Begriff “self-efficacy” (= Selbstwirksamkeit) wurde in den 1970ern von dem Psychologen Albert Bandura entwickelt:

In psychology, self-efficacy is an individual’s belief in their capacity to act in the ways necessary to reach specific goals. […] Self-efficacy affects every area of human endeavor. By determining the beliefs a person holds regarding their power to affect situations, self-efficacy strongly influences the power a person actually has to face challenges competently and the choices a person is most likely to make. […]
A strong sense of self-efficacy promotes human accomplishment and personal well-being. A person with high self-efficacy views challenges as things that are supposed to be mastered rather than threats to avoid. These people are able to recover from failure faster and are more likely to attribute failure to a lack of effort. They approach threatening situations with the belief that they can control them. These things have been linked to lower levels of stress and a lower vulnerability to depression.
In contrast, people with a low sense of self-efficacy view difficult tasks as personal threats and shy away from them. Difficult tasks lead them to look at the skills they lack rather than the ones they have. It is easy for them to lose faith in their own abilities after a failure. Low self-efficacy can be linked to higher levels of stress and depression.

Self-efficacy – Wikipedia [28.01.2024]

Ob Montessori oder Bandura, das Konzept hinter der Selbstwirksamkeit hat bereits eine lange Tradition in Bildungskontexten und wurde hinreichend untersucht. Der positive Effekt auf die Entwicklung eines Menschen ist unbestreitbar. 

Es gibt mehrere Möglichkeiten, Selbstwirksamkeit aktiv zu fördern:

Self-efficacy theory postulates that people acquire information to evaluate efficacy from four primary sources: (a) enactive mastery experiences (actual performances); (b) observation of others (vicarious experiences); (c) forms of persuasion, both verbal and otherwise; and (d) ‘psychological and affective states from which people judge their capableness, strength, and vulnerability to dysfunction’. Of these four information sources, research has shown that enactive mastery experiences are the most influential source of efficacy information because they provide the most direct, authentic evidence that an individual can gather the personal resources necessary to succeed. As one might expect, past successes raise efficacy beliefs, while repeated failures, in general, lower them. However, the influence of performance successes and failures is a bit more complex than this. For example, ‘after strong efficacy expectations are delevoped through repeated success, the negative impact of occasional failures is likely to be reduced’. Thus, the effects of failure on personal efficacy really depend on the strength of individuals’ existing beliefs, as well as the timing of failures with respect to the totality of their performance experiences. In other words, later failures may not negatively impact efficacy beliefs to the same extent as earlier failures might.

Academic self-efficacy: from educational theory to instructional practice – PMC (nih.gov) [28.01.2024]

Was können wir daraus für die Gestaltung von Arbeitskulturen in Bildungshäusern schlussfolgern? Wir brauchen Zeit und Raum, um Erfahrungen zu machen, die unsere Selbstwirksamkeit stärken. Denn eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung beeinflusst unsere Arbeit und unser Entwicklungspotenzial positiv, während eine geringe Selbstwirksamkeitserwartung diese negativ beeinflusst. 

Selbstwirksamkeit kann aktiv gefördert werden, zum Beispiel, indem Lernräume geboten werden, in denen ich bedürfnisorientiert und an meine individuellen Stärken und Schwächen angepassten Lernerfahrungen gemacht werden können. Oder, indem ich meine Teammitglieder regelmäßig in ihren Fähigkeiten verbal bestärke. Und indem ich eine gesunde Fehlerkultur pflege, damit diese die Selbstwirksamkeit nicht unnötig negativ beeinflussen. Schließlich helfen Peer-Reviews dabei, dass ich mich und meine Fähigkeiten einschätzen kann, vorausgesetzt, dass diese Peer-Reviews in einem wertschätzenden Rahmen geschehen.

Das vollständige Buch ist hier kostenlos abrufbar: https://docs.google.com/document/d/15bTj8qyzC0HLpzr6ETigBSrhdXqIsEUIkW0uQKB5z8w/edit?usp=sharing


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