Learning Communities

Aus „Bildung 4.0 – Eine Vision für den systemischen Wandel„, von Madita Hänsch

“Ich weiß, dass ich nicht weiß”, ist ein weltbekanntes Zitat von Sokrates. Diese Erkenntnis gilt als Ausdruck höchster Weisheit und beschreibt eine demütige Haltung gegenüber dem Wissen. Der Philosoph drückte damit sein Bewusstsein darüber aus, dass er kein absolutes und unfehlbares Wissen besitzen kann. 

Dank der Fortschritte in der Neurowissenschaft können wir sogar belegen, wie radikal subjektiv jeder Mensch Wissen und Erfahrungen speichert. Fünf Menschen, die dieselbe Situation erleben, speichern jeweils fünf verschiedene Versionen dieser Erfahrung ab. Denn unsere Gehirne integrieren nur jene Informationen in das neuronale Netzwerk, die als relevant und wichtig eingestuft werden. Was für einen Menschen wichtig ist, ist höchst subjektiv und hängt von allen vorher gemachten Erfahrungen ab (vgl.  Shackleton-Jones (2019): S.3.).

Das Erinnern ist ein rekonstruierender Prozess. Unsere Gehirne sind keine Festplatten, auf denen die Informationen direkt abgespeichert sind und die wir gezielt aufrufen können. Stattdessen hinterlassen Erfahrungen eine Art Abdruck. Wenn wir eine Erinnerung aktivieren, rekonstruiert unser Gehirn die Informationen anhand des Abdrucks. Und jedes Mal, wenn wir eine Erinnerung ansehen, verändern wir den Abdruck, denn inzwischen haben wir uns weiterentwickelt, neue Erfahrungen gemacht und neues Wissen gewonnen – wir sehen alles in einem neuen Licht.

Mit der Haltung des Philosophen Sokrates schaffen wir ein Bewusstsein für unsere blinden Flecken und mentalen Modelle:

‘Mental models’ are deeply ingrained assumptions, generalizations, or even pictures or images that influence how we understand the world and how we take action. Very often, we are not consciously aware of our mental models or the effects they have on our behaviour […]. The discipline of working with mental models starts with turning the mirror inward; learning to unearth our internal pictures of the world, to bring them to the surface and hold them rigorously to scrutiny. It also includes the ability to carry on ‘learningful’ conversations that balance inquiry and advocacy, where people expose their own thinking effectively and make that thinking open to the influence of others.

 Senge (1990): S. 8f.

Entgegen eines eher traditionellen Bilds von Lehrkräften, deren Aufgabe es sei, “das Wissen” aufzubereiten und den Schüler:innen “zu vermitteln” beruht auf der inzwischen überholten Annahme, dass Wissen von Person A zu Person B einfach weitergegeben werden kann, wie ein Down- und Upload zwischen zwei Festplatten. Dank der Neurowissenschaft können wir inzwischen belegen, dass unsere Gehirne so eben nicht lernen. Wir betten die Informationen stets in unsere ganz persönlichen Kontexte ein. 

Dieses Bewusstsein eröffnet uns für die Berufung zur Lernbegleiter:in neue Potenziale. Diese Erkenntnis befreit die Rolle regelrecht von dem Druck, alles wissen zu müssen, was mit dem jeweiligen Fach einhergeht. In dieser Rolle Fehler oder Unwissen einzugestehen, würde bedeuten, “das Gesicht zu verlieren” und ist damit nicht denkbar.

Doch wenn wir dank der Neurowissenschaft anerkennen, dass die klassische Vermittlung schlichtweg nicht funktionieren kann, sind die Wege zum bedürfnisorientierten Lernen endlich frei. Nicht nur für die Kinder und Jugendlichen in unseren Bildungshäusern, sondern auch für die Lernbegleitungen selbst. 

Denn die Geschwindigkeit, mit der wir unsere Wissensbibliotheken inzwischen aktualisieren, macht es notwendig, dass Lernbegleitungen selbst Raum und Zeit erhalten, sich laufend weiterzubilden. Dazu gehört auch das Bewusstsein, dass ein Mensch niemals ausgelernt hat. Und dass er Altes verlernen darf.

Quelle: pexels.com

Ich wurde zum Beispiel 2001 eingeschult. Als ich in der Sekundarstufe 1 auf dem Gymnasium war, lernte ich im Biologieunterricht die Evolutionstheorie nach Charles Darwin kennen. Diese Theorie, so wurde es uns gelehrt, sei der aktuelle Konsens in der Biologie und bisher nicht widerlegt worden. Etwa 20 Jahre später, aufgrund meiner eigenen Recherchen, stellte ich fest, dass bereits in den 90er Jahren die Evolutionstheorie nach Darwin in Teilen widerlegt worden war. Doch das spiegelte sich weder in den Schulbüchern wieder, noch im Lehrplan oder dem Wissen meiner Biologielehrerin.

Fassen wir noch einmal zusammen. Im Laufe der letzten Kapitel konnten wir bereits Folgende Grundprinzipien zum Lernprozess festhalten:

  • Der Lernprozess ist höchst individuell
  • Das Gehirn speichert nur solche Informationen nachhaltig, die es als wichtig erachtet
  • Was wichtig ist, hängt stark von den bisherigen Erfahrungen des Menschen ab
  • Die Informationen, die das Gehirn speichert, verknüpft es mit Emotionen
  • Erinnerungen hinterlassen Abdrücke in unserem Gedächtnis und werden rekonstruiert, nicht abgerufen
  • Jede Rekonstruktion verändert die Erinnerung erneut
  • Je öfter wir über etwas Nachdenken, desto mehr stärken wir die neuronalen Verbindungen zu diesen Informationen

Heben wir noch einmal den Punkt mit den Emotionen hervor. Je stärker die Emotionen, die mit dem Wissen bzw. der Erfahrung in Verbindung gebracht werden, desto einprägsamer ist der Abdruck, den diese Informationen  in unserem Gehirn hinterlassen. Positive Emotionen sind hierbei zu bevorzugen. Daher ist es eine logische Schlussfolgerung, dass eine mit positiven Emotionen verknüpfte Beziehung zu der Person, die mich in meinem Lernprozess begleitet, den Lernprozess nachhaltig fördert. Einfach gesagt: Ich lerne am besten, wenn ich Interesse am Lerngegenstand habe und die Person, die mir etwas beibringen möchte, gern habe.  

Daher ist es besonders förderlich, wenn wir sozial lernen, mit Menschen, die uns sympathisch sind, und über Lerngegenstände, die uns interessieren. Wenn wir dann außerdem eine bewusste Haltung gegenüber unseren blinden Flecken und mentalen Modellen pflegen, steht dem lebenslangen Lernen nichts mehr im Wege. 

Deshalb  empfehle ich, sogenannte Learning Communities, Learning Circles, oder Communities of Practice  innerhalb und außerhalb der Bildungshäuser zu pflegen. Diese lassen sich dank der Digitalisierung ohne großen Aufwand, und ohne zusätzliche finanzielle Ressourcen zu aktivieren, jederzeit umsetzen:

  1. Aktiviere dein Netzwerk (LinkedIn, #Instalehrerzimmer, oder andere) und mache deine Suche nach einem Learning Circle öffentlich
  2. Einige dich mit denen, die deinem Aufruf gefolgt sind, auf einen Regeltermin und ein digitales Kommunikationstool
  3. Leg los!

Das vollständige Buch ist hier kostenlos abrufbar: https://docs.google.com/document/d/15bTj8qyzC0HLpzr6ETigBSrhdXqIsEUIkW0uQKB5z8w/edit?usp=sharing


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