Aus „Bildung 4.0 – Eine Vision für den systemischen Wandel„, von Madita Hänsch
Wir verbringen viel Zeit damit, andere zu treffen oder E-Mails auszutauschen, aber nicht sehr viel Zeit, mit uns selbst zu kommunizieren. Darum wissen wir nicht, was in uns vor sich geht. Vielleicht herrscht in uns ein totales Durcheinander. Wie können wir dann mit einem anderen Menschen kommunizieren?
Hanh, Thich Nhat (2013): achtsam sprechen – achtsam zuhören – Die Kunst der bewussten Kommunikation. München: Droemer Knau GmbH & Co. KG. S. 18f.
Im täglichen Leben sind wir von uns selbst getrennt. Wir gehen, aber wir wissen nicht, dass wir gehen. Wir sind hier, aber wir wissen nicht, dass wir hier sind. Wir sind lebendig, wissen aber nicht, dass wir es sind. Während des Tages verlieren wir uns.
Innezuhalten und mit uns selbst in Kommunikation zu treten ist ein revolutionärer Akt. Sie setzen sich hin und beenden diesen Zustand des Verlorenseins, des Nicht-Sie-selbst-Seins. Sie beginnen damit, indem Sie einfach mit dem aufhören, was Sie gerade tun, und sich mit sich selbst verbinden. Das wird achtsame Gewahrsein genannt. Achtsamkeit ist volles Gewahrsein des gegenwärtigen Moments. Sie brauchen dazu kein iPhone und keinen Computer. Sie müssen sich nur hinsetzen und ein- und ausatmen. In nur wenigen Augenblicken können Sie sich mit sich selbst verbinden. Sie wissen, was in Ihrem Körper, in Ihren Gefühlen und in Ihrer Wahrnehmung geschieht.
Sucht man bei Google mit der Frage “Wie beeinflusst Achtsamkeit die Produktivität?” erhält man mehrere Artikel, die sich auf Studien berufen, die Zusammenhänge zwischen den positiven Auswirkungen von Achtsamkeitspraktiken und der erhöhten Produktivität am Arbeitsplatz erkennen. Dabei wird nicht immer erwähnt, dass zunächst der positive Einfluss die Gesundheit und das Wohlbefinden betrifft. Und die erhöhte Produktivität eine Folge dieser Faktoren ist. Wenn mein Arbeitgeber außerdem in Angebote investiert, um meine Gesundheit und mein Wohlbefinden zu fördern, erhöht das die Mitarbeiter:innenbindung, die wiederum einen positiven Einfluss auf die Produktivität hat (Pressemitteilung Gallup Engagement Index 2022 [30.01.204]).
Gerade Berufe, bei denen eng mit Menschen gearbeitet wird, ist das Risiko für Stress und emotionale Belastung hoch. Das betrifft Lehrkräfte ebenso wie Pflegende, Ärzt:innen, Pädagog:innen, Psycholog:innen, Sozialarbeiter:innen, usw. Als Arbeitgeber für diese Professionen darf ich meine Fürsorgepflicht nicht vernachlässigen – die Folgen kosten mich mehr, als die Investition in die Förderung der Gesundheit und des Wohlbefindens meiner Mitarbeitenden.
Achtsamkeit hat seinen Ursprung in buddhistischen Praktiken wie Meditation oder Yoga. Die Forschung in diesem Bereich erfreut sich wachsendem Interesse. U.a. werden die Gehirnströme von meditierenden Zen-Meistern untersucht. Außerdem gibt es zunehmend Langzeit-Studien, die sich mit den Veränderungen des allgemeinen Gesundheitszustands auseinandersetzen, wenn Menschen täglich meditieren. Zum Beispiel:
Zum Glück kann man heute davon ausgehen, dass sich Resilienz, also eine gewisse emotional-mentale Flexibilität im Umgang mit Stressoren, trainieren lässt. Meditation gilt als besonders wirksame Methode. Nicht nur erhöht sie subjektives Wohlbefinden, sie beeinflusst auch das Immunsystem nachhaltig. Das konnte Richard Davidson an der University of Wisconsin nachweisen. Der Neurowissenschaftler befasst sich seit mehr als dreißig Jahren mit den biologischen Kaskaden, welche die Meditation im menschlichen Organismus auslöst. In einer seiner vielen Studien durchliefen 25 Probanden ein achtwöchiges klinisches Training in Achtsamkeitsmeditation. Danach wurden sowohl die Meditierer als auch die Teilnehmer in der nichtmeditierenden Kontrollgruppe gegen Grippe geimpft. Erstere entwickelten signifikant mehr Antikörper, waren also vor dem Influenzavirus besser geschützt. Es ist erstaunlich, wie deutlich das Immunsystem gemäß den Studien nach nur zwei Monaten Meditationsintervention reagiert!
Schubert, Christian (2021): Was uns krank macht was uns heilt – Aufbruch in eine neue Medizin. Munderfing: Verlag Fischer & Gann in Kamphausen Media GmbH. S. 133.
Meditation lässt sich unkompliziert in die alltäglichen Routinen integrieren. Zum Beispiel:
- Den Kaffee am Morgen in vollem Bewusstsein genießen
- Einen Spaziergang zur Mittagspause für eine Gehmeditation nutzen
- Den Nachmittagstee/-kaffee bewusst genießen
- Eine Meditation auf der Matte am Abend, um im Feierabend anzukommen
- Ein Meditationswecker, der regelmäßig klingelt, um 3 Minuten durchzuatmen
Stillsitzen und Atmen ist nur eine Form der Meditation. Gehmeditationen sind ebenso wirksam. Achtsames Yoga ist eine meditative Praxis, bei der das Körpergefühl im Vordergrund steht. Es braucht keine Ausbildung bei einem Zen-Meister, um Achtsamkeit zu praktizieren und von den positiven Auswirkungen zu profitieren.
Als Arbeitgeber kann ich meine Mitarbeitenden mit Kursangeboten rund um Achtsamkeitspraktiken unterstützen. Ich kann ihnen einen Raum am Arbeitsplatz anbieten, in den sie sich zurückziehen können, um zu meditieren. Ich kann ihnen Yogamatten zur Verfügung stellen und ihnen genug Zeit in der Mittagspause für einen erfrischenden Spaziergang geben. Abgesehen von den Kursen verursachen diese Maßnahmen wenig bis keine Kosten. Tatsache ist, dass Achtsamkeit auf allen Ebenen nur positive Auswirkungen hat, während der Mangel an Förderung der Gesundheit und des Wohlbefindens in Berufen, die prädestiniert für eine hohe emotionale Belastung sind, im Gegensatz nachweislich langfristige Folgen hat – es wäre also fahrlässig von jedem Arbeitgeber solcher Branchen, sich hier nicht zu bemühen:
Jegliche Dauerbelastung, der wir nicht entkommen können und die wir tagein, tagaus aushalten müssen, führt zu einer fortwährenden Aktivierung der erwähnten Stress-Achsen. Das Gehirn sendet unter anderem in einem fort Signale an die Nebennierenrinde, wodurch die Cortisolproduktion angetrieben wird. Weil es die Aufgabe von Cortisol ist, die Entzündungsaktivität herunterzuregulieren, hat ein ständig erhöhter Cortisolspiegel (Hypercortisolismus) ein permanent heruntergefahrenes Immunsystem zur Folge. Aufgrund einer Überdosis an Cortisol werden T-Zellen und anderen Immunzellen handlungsunfähig. Eine anhaltende Störung der Immunregulation fördert das Auftreten von Infektionen, Wundheilungsstörungen und Allergien. Sogar das Auftreten von Krebs dürfte durch längerfristigen Stress und die damit verbundenen Immunveränderungen begünstigt werden.
Schubert (2021): S. 48f.
Achtsamkeit ist aber nur ein Baustein, um meine Gesundheit bzw. die meiner Mitarbeitenden zu fördern. Um einen besonderen Fokus auf den Beruf der Lehrkraft zu legen, möchte ich zunächst auf die Belastungsfaktoren dieses Berufs eingehen. Carsten Bangert, selbst Schulleitung, aber auch Autor und Referent mit über 15 Jahren Erfahrung zum Thema Lehrergesundheit, fasst in seinem Buch die Belastungsfaktoren für Lehrkräfte wie folgt zusammen:
Etwas 30 Prozent der Lehrer/innen tendieren stark dazu, unter Burnout oder Depression (Muster B) zu erkranken. Weitere 30 Prozent zählen zu dem Typ ‘angespannt’. Dieser Typ A ist stark gefährdet, bei anhaltender Selbstüberforderung ohne ausreichende und kraftspendende Erholungsphasen im Muster B zu enden.
Bangert (2019): S. 21.
Etwa 60 Prozent der Kolleg/innen sind also akut gefährdet, unter der psychischen Beanspruchung zu zerbrechen.
Die Studie von Weber, Weltle & Lederer untersuchte außerdem die Ursachen für die Dienstunfähigkeit von Lehrkräften. 52% aller Ursachen gehen auf die Psyche zurück. Davon wiederum ist die häufigste Diagnose Depression:
Bangert stellt klar, dass die notwendige Veränderung der Rahmenbedingungen erst spät ihre Ergebnisse entfalten wird. Deshalb legt er mit seiner Arbeit den Fokus auf den unmittelbaren Wirkungskreis jeder einzelnen Lehrkraft. Bereits mit der Änderung der eigenen Haltung und der Weiterentwicklung persönlicher Handlungsstrategien sei für jede:n Einzelne:n bereits viel möglich, um die Situation unmittelbar zu verbessern: „Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir permanent an uns arbeiten müssen, um gesünder und zufriedener zu leben. Wir kommen nicht umhin, Verantwortung zu übernehmen für unsere persönliche Entwicklung und unser Wohlempfinden.“ (Bangert (2019): S. 27.)
Carsten Bangert ist einer von vielen Coaches und Referent:innen, die dem System schon jetzt zur Verfügung stehen, um den Einzelnen oder dem gesamten Kollegium dabei zu helfen, an diesen direkt verfügbaren Stellschrauben zu drehen, um die eigene Situation maßgeblich zu beeinflussen und nachhaltig zu verbessern.
Es wäre fahrlässig, sich nicht mit der Förderung der Gesundheit von Teams in Schulen auseinanderzusetzen. Denn der erhöhte Stress auf diejenigen Personen, denen wir unsere Kinder anvertrauen, kann fatale Folgen haben, wie Krumm und Eckstein in ihrer Erhebung im Jahre 2001 feststellten:
In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Stress und Überlastung von Lehrern seit vielen Jahren erforscht und öffentlich erörtert wird. Stress und Überlastung von Schülern spielt im Vergleich dazu jedoch eine geringe Rolle, und eine Diskussion über die Opfer jener Lehrer, die ihren pädagogischen Berufsaufgaben nicht gewachsen sind, findet kaum statt.
Krumm, Volker & Eckstein, Kristin (2003): Geht es Ihnen gut oder haben Sie noch Kinder in der Schule? – Über Lehrerverhalten, das Schüler und manche Eltern krank macht. S. 449f. In: Die Deutsche Schule 95 (2003) 4. S. 439-451. Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation.
In der Schule werden bedenklich viele Lehrer und Schüler krank. Was krank macht, ist aber nicht ‘die Schule’. Was Lehrer krank macht, ist vor allem die Belastung durch schwierige Schüler, was Schüler krank macht, ist vor allem pädagogisch inakzeptables Verhalten von Lehrern.Theoretisch befriedigender formuliert: Krank werden in der Schule Lehrer, die die Herausforderungen ihrer Schüler nicht bewältigen; krank werden in der Schule Schüler, die die Herausforderungen des Unterrichts, also des Lehrers, nicht bewältigen können, besonders, wenn diese aus pädagogisch inakzeptablem Verhalten bestehen.
Die Ausgangslage von Lehrern und Schülern in der Schule ist allerdings höchst verschieden: Schüler gehen in die Schule, um motiviert, gefördert, erzogen, gebildet zu werden, um sich physisch und psychisch ‘gesund’ zu entwickeln und ‘reif’ zu werden. Lehrer dürfen in der Schule ihrem Beruf nachgehen, weil sie in einer vieljährigen Ausbildung die Kompetenz erworben haben sollten, das alles zum Wohl der ihnen anvertrauten Schüler leisten zu können – ‘ an leichten und an schweren Unterrichtstagen’. Die Kränkungsberichte, die Gegenstand dieses Textes waren, machen bewusst, dass es zu viele Lehrer und Lehrerinnen gibt, die versagen, wenn sie es mit Schülern zu tun haben, die sie als ‘schwierig’, ‘dumm’, ‘gestört’, ‘fehl am Platz’, ‘verhaltensauffällig’ erlbene. Statt sie zu fördern, machen sie diese Schüler ‘fertig’.
Das vollständige Buch ist hier kostenlos abrufbar: https://docs.google.com/document/d/15bTj8qyzC0HLpzr6ETigBSrhdXqIsEUIkW0uQKB5z8w/edit?usp=sharing
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