Schulangst – eine neue Volkskrankheit?

Wir halten auf dem Parkstreifen vor der Schule. Es ist ruhig draußen, denn der Unterricht hat schon begonnen. Meine Mama spricht mir noch einmal Mut zu. Dann öffnet sie die Tür und steigt aus. Ich greife mechanisch zum Türgriff und folge ihr. Sie setzt mir meinen Schulranzen auf. Dann nimmt sie meine Hand und führt mich den Weg hinauf zum Schuleingang. Wenige Schritte später breche ich in Panik aus. Mein Herz rast. Ich beginne zu schreien. Meine Mama ist verzweifelt. Sie versucht mich, weiter zum Schuleingang zu bewegen. Ich lasse mich zu Boden fallen und wehre mich mit Händen und Füßen. Meine Mama bemüht sich, mich zu beruhigen. Ich beruhige mich erst, als sie verspricht, dass ich heute nicht in die Schule muss. Ich stehe auf, gehe zurück zum Auto, während mir weiter die Tränen die Wangen hinab laufen. Ich bin erleichtert. Und ich fühle mich schlecht, weil ich meine Mama wieder enttäuscht habe.

Als ich 9 war, litt ich unter Schulangst. Auslöser war ein traumatisches Erlebnis in der dritten Klasse. Doch das wusste weder ich noch meine Eltern oder Lehrkräfte zu dem Zeitpunkt. Warum ich unter Schulangst litt, war allen ein Rätsel. Meine Eltern waren geistesgegenwärtig und organisierten mir schnell eine Therapie. Deshalb konnte ich die vierte Klasse noch beenden und startete mit neuem Mut in die fünfte Klasse. Doch bei dem Gedanken, meine alte Grundschule zu betreten, wird mir immer noch flau im Magen.

Beim NDR gibt es einen kurzen Beitrag, der eine ähnliche Geschichte erzählt, zur Veranschaulichung:
https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Panik-vor-dem-Unterricht-Das-unterschaetzte-Problem-Schulangst,schulangst100.html

Schulangst nimmt vermutlich deutschlandweit zu

Unterschiedliche Ursachen können dazu führen, dass Schüler:innen eine Schulangst entwickeln: Mobbing, Leistungsdruck, Lernschwierigkeiten, Familiäre Konflikte, Angst vor Bloßstellung, Ausgrenzung. Diese Faktoren können einzeln oder in Kombination auftreten und zur Entwicklung einer Schulangst beitragen. Hinzu kommen langfristige Folgen einer Schulangst in Form von Depressionen, Angststörungen, sozialer Phobie, Schlafstörungen, Verhaltensstörungen, selbstverletzendem Verhalten oder Suchterkrankungen, wenn die Schulangst nicht frühzeitig behandelt wird.

Schulangst zeigt sich durch körperliche Symptome wie Übelkeit und Erbrechen, Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Schwindel und Kreislaufschwäche, Durchfall, Herzrasen, Schwitzen, aber auch Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme, Nägelkauen, Zähneknirschen, Stimmungsschwankungen, Leistungsabfall in der Schule und Schulabstinenz. Dass es sich um eine auf die Schule bezogene Angst handelt, zeigt sich daran, dass diese Symptome besonders morgens vor der Schule oder in einem Zusammenhang mit schulischen Ereignissen stehen.

Die Fälle von Schulangst werden bisher von keiner Statistik individuell erfasst. Doch die Studien zum Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen sowie zur psychischen Gesundheit weisen darauf hin, dass sich die Situation zunehmend verschärft. Schätzungen zufolge sind etwa 10 bis 20 Prozent der Schüler:innen in Deutschland von schulvermeidendem Verhalten betroffen, das häufig mit Ängsten zusammenhängt. Expert:innen gehen davon aus, dass das Problem der Schulangst größer ist, als allgemein angenommen wird. (Schulangst verbirgt sich oft hinter körperlichen Symptomen: Neurologen und Psychiater im Netz).

Betrachten wir die Ursachen von Schulangst, überraschen diese Schätzungen nicht. Werfen wir dann einen Blick auf die Daten zum psychischen Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen, ist eine Korrelation nicht auszuschließen:

Quelle: https://caas.content.dak.de/caas/v1/media/54006/data/70fb4d27453c8b44559e988387eef0b3/231114-download-praesentation-psychische-erkrankungen.pdf

Das System ist nicht vorbereitet

In Deutschland kommen durchschnittlich etwa 7000 Schüler:innen auf eine:n Schulpsycholog:in. Diese Zahl variiert jedoch zwischen den Bundesländern. In Niedersachsen ist ein:e Schulpsycholog:in für etwa 15.000 Schüler:innen zuständig. In Berlin, Hamburg und Bremen kommt ein:e Schulpsycholog:in auf etwa 4500 Schüler:innen. (Schulpsychologen: Zuständig für durchschnittlich 7000 Schüler – DER SPIEGEL).

Doch auch die allgemeine Versorgung in Deutschland ist nicht auf den Anstieg psychischer Erkrankungen vorbereitet. Seit Beginn der Pandemie hat sich die Wartezeit für einen Therapieplatz auf 6 Monate erhöht. In ländlichen Gebieten kann die Wartezeit sogar länger als ein Jahr betragen. Diese langen Wartezeiten sind problematisch, da eine zeitnahe Behandlung wichtig wäre, um Chronifizierungen und Komorbiditäten vorzubeugen.

Wir brauchen sichere Lernräume

Symptombehandlung ist wichtig und richtig, damit den Menschen geholfen wird, die betroffen sind. Dabei wünschen wir niemandem, überhaupt erst zu erkranken. Gerade bei psychischen Erkrankungen gibt es großes Potenzial, präventiv zu agieren und Ursachen erfolgreich zu bekämpfen.

Im Kontext Schule sind die Maßnahmen offensichtlich und einfach:

  • Leistungsdruck aus dem System nehmen
  • Aufklärung leisten
  • Die Raumgestaltung auf psychisches Wohlbefinden ausrichten
  • Bedürfnisgerechte Lernräume schaffen
  • Strategien zur psychologischen Sicherheit in Teams etablieren

Diese Maßnahmen kosten kein zusätzliches Geld, sondern erfordern lediglich eine kollektive Kraftanstrengung, persönliche Haltungen zu reflektieren.

Timothy R. Clark – er hat einen Ph.D. in Sozialwissenschaften von der Universität Oxford und war Fulbright-Stipendiat an der Seoul National University in Korea, außerdem ist der Gründer und CEO von LeaderFactor – leitet von seiner Forschung zur psychologischen Sicherheit in Teams die folgenden vier Stufen ab:

  1. Inclusion Safety – Wir alle wollen uns zugehörig fühlen. Es geht darum, sich einfach wohl zu fühlen, wenn man anwesend ist. Es bedeutet, dass alle willkommen sind – ohne Diskriminierung hinsichtlich Geschlechter, Alter, Herkunft, sozialen Hintergrund, Sexualität oder Neurodiversität.
  2. Learner Safety – Jede:r kann Fragen stellen, Feedback geben und erhalten, experimentieren und Fehler machen – kurz gesagt, alle Verhaltensweisen, die es ermöglichen, gemeinsam zu lernen.
  3. Contributor Safety – Das bedeutet, dass sich jede:r ermutigt fühlt, Ideen und Vorschläge einzubringen und Bedenken und Risiken ohne zwischenmenschliche Angst anzusprechen. Jedes Teammitglied weiß, dass es gehört wird, weil seine individuellen Fähigkeiten, Kompetenzen und Erkenntnisse von allen anerkannt werden.
  4. Challenger Safety – Das bedeutet, dass Teammitglieder die Arbeitsweise des Teams in Frage stellen und neue Arbeitsweisen entwickeln können. Sie fühlen sich sicher genug, um die Ideen anderer in Frage zu stellen.

(The Four Stages of Psychological Safety – Psych Safety)

Beginne bei dir und im eigenen Klassenzimmer

Als Lernbegleitung kann ich mich jederzeit, jeden Tag dazu entscheiden, meine Lernräume entsprechend zu gestalten, sodass sich jedes Kind hier zugehörig, sicher und geschätzt fühlt. Es beginnt mit der eigenen Haltung und erweitert sich davon ausgehend auf das gesamte Beziehungsgefüge in eigenen Klassenraum und darüber hinaus.

Inclusion Safety: Heiße alle Schüler:innen willkommen und schätze sie, einfach dafür, dass sie da sind. Schaffe eine Atmosphäre des Respekts und der Akzeptanz, indem du Gruppenaktivitäten förderst und das Gefühl der Zusammengehörigkeit unter deiner Klasse aktiv stärkst.

Learner Safety: Betrachte Fehler als Lernchancen und verstärke diese Situationen positiv. Gebe konstruktives Feedback und hilf deinen Schüler:innen zu üben, dieses anzunehmen. Biete ihnen verschiedene Lernstrategien an und akzeptiere individuelle Lerntempi. Heble den Effekt von Noten aus, indem du deinen Schüler:innen erlaubst, sich selbst einzuschätzen und in der Gruppenarbeit sich gegenseitig einzuschätzen.

Contributor Safety: Gestalte den Lernraum partizipativ, indem du deine Schüler:innen ermutigst, eigene Ideen einzubringen. Begrüße Kreativität und unkonventionelles Denken. Setze verstärkt auf Methoden für selbstwirksame Gruppenarbeit.

Challenger Safety: Biete regelmäßig Gelegenheit, um das kritische Denken deiner Schüler:innen zu aktivieren und das Hinterfragen anzuregen. Dafür kannst du Diskussionen und Debatten integrieren und die Schüler:innen aktiv ermutigen, konstruktiv zu kritisieren.

Hast du weitere Anregungen, Erfahrungen und Tipps für das Gestalten sicherer Lernräume? Dann hinterlasse gern einen Kommentar!


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