New Work needs Inner Work

Aus „Bildung 4.0 – Eine Vision für den systemischen Wandel„, von Madita Hänsch

Der Mensch hat das grundlegende Bedürfnis danach, sich sicher zu fühlen. Organisationale Strukturen, wie Hierarchien mit einer eindeutigen Befehlskette, können Stabilität und Sicherheit ausstrahlen. Ihre Rahmenbedingungen sind eindeutig und klar definiert. Es liegt in ihrem Charakter, dass sie nicht hinterfragt werden und daher wenig kognitiven Aufwand erfordern, wenn wir uns in ihnen bewegen. 

Doch in einer komplexen und dynamischen Welt, wie der, in der wir heutzutage leben, können solch stabile Systeme nicht länger funktionieren. Denn diese Stabilität geht auf Kosten mangelnder Resilienz. 

Der Begriff der Resilienz kommt ursprünglich aus der Physik. Ein resilienter Körper ist dazu in der Lage, sich anzupassen, wenn äußere Kräfte auf ihn wirken, und anschließend wieder in seine ursprüngliche Form zurückzufinden, sobald diese Kräfte nicht länger auf ihn wirken. 

Ein hierarchisch-bürokratisch organisiertes System, das mit Stabilität aufgrund starrer Richtlinien glänzt, ist nicht resilient. Es kann nicht die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit leisten, die unsere Welt heutzutage von Systemen verlangt:

An Organisationen ist heute mehr denn je die Anforderung gestellt, immer größere Informationsmengen mit immer größerer Geschwindigkeit wahrzunehmen und zu verarbeiten, wenn sie erfolgreich bleiben wollen. Organisationen, die für das Wahrnehmen und Verarbeiten von derartigen Informationsmengen auf wenige Top-Manager setzen, schaffen sich Flaschenhälse. Statt das Potenzial vieler hundert oder tausend Menschen in der Organisation dafür zu nutzen, wird diese Verarbeitungskapazität auf wenige zentrale Entscheidungsträger reduziert. Noch immer herrscht oftmals der Glaube, dass wenige Menschen aufgrund ihrer Fähigkeiten den richtigen Weg für eine Organisation kennen, dass sie alle wichtigen Einflussgrößen im Blick haben, deren Entwicklung gut einschätzen können und entsprechende Entscheidungen ableiten. Und, ganz ehrlich – wer würde das allen Ernstes von sich selbst behaupten? Doch selbst wenn die klügsten, empathischsten und kompetentesten Menschen an der Spitze der Organisation stehen, reichen deren Kapazitäten nicht aus, um der ständig steigenden Komplexität gerecht zu werden. Denn all das, was hier, bei diesen wenigen Menschen, nicht als ‚wichtig‘ genug erscheint, um auf die Agenda dieser wenigen Entscheidungsträger zu kommen, geht als Entwicklungschance für die Organisation verloren.

Und dennoch: der Großteil der Organisationen agiert genau unter diesen Annahmen und in der impliziten Illusion, eine VUCA-Welt (Volatile, Uncertain, Complex, Ambiguous) kontrollieren zu können. Aber wir stehen am Beginn eines fundamentalen Wandels in der Art, wie wir leistungsfähige Organisationen gestalten. Denn wir brauchen komplexitätsgerechtere Formen des Organisierens. In einem komplexen Umfeld, wo nichts mehr vorhersagbar ist, geht es nicht mehr um die richtige Entscheidung, sondern um die Geschwindigkeit des Lernens. Brian Robertson würde sagen: ‚Evolution is smarter than you.‘ Organisationen, die das frühzeitig erkennen, werden langfristig einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil haben: sie bleiben antwortfähig in einem unglaublich dynamischen Kontext.

 Robertson, Brian J. (2016): Holacracy – Ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt. München: Verlag Franz Vahlen GmbH. Aus dem Vorwort von Dr. Gerald Mitterer. S. IXf.
Quelle: pixabay.com

Während hierarchisch-bürokratische Organisationen ihre Stabilität durch Äußerlichkeiten wie Richtlinien und Befehlsketten herstellen, gewinnen selbstorganisierende Systeme ihre Stabilität durch die Dezentralisierung von Kompetenzen und Verantwortung. Tatsächlich folgt diese Form der Organisation dem Vorbild der Natur. In den Ökosystemen dieser Welt gibt kein einzelner Organismus den Ton an. Hier harmoniert das Zusammenspiel unzähliger Organismen. Ebenso funktioniert beispielsweise unser eigener Körper: 

Wenn der Körper kein System verteilter Autorität wäre, wobei die verschiedenen Zellen, Organe und Systeme jeweils eine klare Autonomie, Autorität und Verantwortung innehaben, dann wäre der bewusste Geist mit dem Management all dieser Teile beschäftigt. Aber weil unsere bewusste Energie für die ständige Entscheidungsfindung in unseren körperlichen Prozessen nicht gebraucht wird, ist unser Geist frei, sich mit all den außergewöhnlichen kreativen Fähigkeiten zu beschäftigen, die unsere menschliche Kultur auszeichnen. Ich denke, das trifft auch auf Organisationen zu. Wenn alle lokalen Teile der Organisation echte Verantwortung übernehmen und anwenden und dadurch autonom und wirkungsvoll reagieren können, erhalten die bisherigen ‚Chefs‘ die Freiheit, sich auf eine vollkommen andere Ebene zu konzentrieren – sich mit den größeren kreativen Fragen zu beschäftigen, in denen es darum geht, wie der Sinn und die Aufgabe der Organisation in der Welt zum Ausdruck kommen kann.

 Robertson (2016): S. 24f.

All die Ressourcen, die hierarchisch-bürokratische Systeme aufwenden, allein für die Verwaltung des Systems selbst, werden in selbstorganisierenden Systemen eingespart. Durch die Dezentralisierung von Verantwortung wird jedem Einzelnen Mitglied der Organisation ein Handlungs- und Gestaltungsspielraum eingeräumt. Führung ist temporär und kompetenzorientiert. Zusammenarbeit findet auf Augenhöhe statt. Ein solches System ist flexibel, anpassungsfähig und hat seine Energien frei, um sich auf seine eigentlichen Aufgaben zu konzentrieren. 

Sollen wir deshalb sämtliche Hierarchien abschaffen?

Diese Frage lässt sich nicht pauschal beantworten. Hierarchisch-bürokratische Systeme sind per se nicht schlecht. Sie haben in den letzten Jahrzehnten den Fortschritt ermöglicht, den Wohlstand aufgebaut, in dem wir heute leben. Doch die Welt hat sich weiterentwickelt – und es ist Zeit, dass unsere künstlich geschaffenen Systeme sich mit ihr entwickeln. Dabei erfordert die Komplexität und Individualität unserer Gesellschaft, abhängig von dem WHY, HOW und WHAT der Organisation, einen unterschiedlichen Grad an Selbstorganisation. 

Es ist zweifellos erforderlich, im Bildungssystem gewisse Hierarchien aufrechtzuerhalten, um beispielsweise Qualitätssicherung zu ermöglichen. Ebenso ist es zweifellos erforderlich, dass jedem einzelnen Bildungshaus Handlungs- und Gestaltungsräume ermöglicht werden, um flexibel auf die sich verändernden Umwelten reagieren und proaktiv gestaltend agieren zu können. Eine Schule in Schleswig-Holstein, die unmittelbar an die Ostsee grenzt, beherbergt Kinder und Jugendliche mit völlig anderen Interessen und Lebenswelten als eine Schule in einem sozial armen Bezirk einer Großstadt wie Köln.

Quelle: pixabay.com

Außerdem besteht ein so großes System wie das Bildungssystem aus mehreren Teilsystemen. Und selbst eine Schule besteht mindestens aus zwei Teilsystemen: Dem Verwaltungsapparat und dem operativen Bereich. Im Verwaltungsapparat ist es sinnvoll, mit standardisierten Prozessen – einem Kind der hierarchisch-bürokratischen Organisation – zu agieren. Während der operative Bereich Agilität erfordert. 

Dabei gilt, je mehr äußere Struktur abgebaut wird, desto mehr innere Strukturen werden benötigt:

Alle Organisationen, unabhängig davon, ob sie hierarchisch oder selbstorganisiert sind, bestehen aus mehr als ihren sichtbaren Strukturen und Prozessen. Sie haben auch eine innere Dimension, die nicht objektiv beobachtbar, sondern nur subjektiv erfahrbar ist.

Diese innere Dimension ist die Organisationskultur, bestehend aus den Bedürfnissen, Wahrnehmungen und Erwartungen, die sich in den Kommunikationsstilen und Verhaltensformen der beteiligten Mitarbeiter ausdrücken.

 Breidenbach, Joana & Rollow, Bettina (2019): New Work needs Inner Work. München: Franz Vahlen GmbH. S. 19.

Agile, selbstorganisierende Systeme sind darauf angewiesen, dass ihre Mitglieder die sogenannten Future Skills beherrschen, um funktionieren zu können. Die Future Skills können hier als die inneren Strukturen verstanden werden, aus denen selbstorganisierende, agile Systeme ihre Resilienz gewinnen. Es sind Metakompetenzen, die jede:r Mensch erlernen kann.

Das Forschungsprojekt NextSkills lief im Rahmen eines multimethodischen Designs ab, um die sogenannten Future Skills zu identifizieren. Die Studie hatte zum Ziel zu ermitteln, welche Metakompetenzen alle Studierenden der Hochschulen gleichsam erlernen sollten, damit sie erfolgreich in der Arbeitswelt tätig sein könnten. Neben der Future Skills Map (s.u.), in der die Future Skills identifiziert und beschrieben werden, gelangte die Studie außerdem zu folgendem Ergebnis: 

Future Skills zu fördern bedeutet auch, ein Bildungssystem zu gestalten, welches die zukünftigen Bürgerinnen und Bürger in die Lage versetzt, mit damit verbundenen Herausforderungen umzugehen und in der Gesellschaft für Kohärenz zu sorgen, Offenheit, Toleranz, ein Bewusstsein für Unterschiedlichkeit wertzuschätzen und gerade nicht, populistischen Erklärungen zu erliegen. Es wurde uns deutlich, dass die Frage, wie junge Leute für die Teilhabe an gesellschaftlichen Systemen und Prozessen befähigt werden, und wie wir Frieden, Bewahrung der SChöpfung und Gemeinschaft als Werte in einer zukünftigen Gesellschaft stärken können, zukünftig über die Relevanz unserer Hochschulen entscheiden.
Dabei wird das heutige Fach- und Expert(inn)enwissen nur noch einen kleinen Teil darstellen, an dem sich zukünftige Generationen auf ihrer Suche nach Lösungen komplexer Probleme orientieren werden können. Sie werden von mehr angetrieben werden als von Karriere, einem guten Job und einem hohen Einkommen. Auch um das Wohl ihrer Freunde und Familien, ihrer Communities und des Planeten als Ganzem, werden sie sich bemühen müssen. Mitgefühl, Achtsamkeit und Leidenschaft werden zu expliziten Bildungszielen der Hochschulen der Zukunft werden. Es wird darum gehen, Bildungskonzepte einzusetzen, die Lernende mit Kraft, Energie und Überzeugung ausstatten und mit der Fähigkeit, diese wertschätzend zu kommunizieren. Die Kompetenzen, die sie brauchen, müssen sie in die Lage versetzen, ihr eigenes Leben zu gestalten und zum guten Leben anderer beizutragen.

 Ehlers, Ulf-Daniel (2020): Future Skills – Lernen der Zukunft – Hochschule der Zukunft. Wiesbaden: Springer VS. S. 3f. Open Access. Abrufbar unter: Future Skills : Lernen der Zukunft – Hochschule der Zukunft | SpringerLink

Diese Zukunft ist jetzt. Und diese Anforderung gilt nicht nur für Hochschulen, sondern auch für Schulen. Denn auch diese haben den Auftrag, junge Menschen in die Lage zu versetzen, mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts umgehen und in der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts tätig sein zu können. 

Da ich zu Beginn dieses Kapitels betont habe, dass wir uns zunächst mit der Organisation Bildungshaus an sich beschäftigen wollen, ehe wir uns der Gestaltung von Lernräumen widmen, möchte ich noch einmal betonen: Wir leben in der als volatile, uncertain, complex, ambiguity (VUCA) bezeichneten Welt des 21. Jahrhunderts. Diese erfordert von allen in ihr bestehenden Systemen Resilienz. Auch vom Bildungssystem, seinen Teilsystemen und Organisationen. Resilient sind selbstorganisierende, agile Systeme. Diese haben wenig äußere Strukturen und sind deshalb verstärkt auf innere Strukturen angewiesen. Die Frage, wie wir diese Strukturen aufbauen können, werden mit den Future Skills beantwortet. Jetzt lautet die Aufgabe, alle Mitglieder des Systems darin zu unterstützen, diese Fähigkeiten zu entwickeln. Jede:r Einzelne hat an dieser Stelle die Freiheit, bereits heute damit zu beginnen.

Das vollständige Buch ist hier kostenlos abrufbar: https://docs.google.com/document/d/15bTj8qyzC0HLpzr6ETigBSrhdXqIsEUIkW0uQKB5z8w/edit?usp=sharing


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