Aus „Bildung 4.0 – Eine Vision für den systemischen Wandel„, von Madita Hänsch

Verabschieden wir uns zuallererst von dem Modell des sogenannten Nürnberger Trichters und damit einhergehend von Begriffen wie “vermitteln” und “Lernstoff” sowie von Methoden wie “Frontalunterricht” und “Vorlesung”.

Warum?

Weil diese Tradition der Lehre davon ausgeht, dass jede:r Mensch das Wissen, dass ihm dargereicht wird, auf dieselbe Weise rezipiert und in seinem Gedächtnis “speichert”, wie es von demjenigen rezipiert und “gespeichert” wurde, der es ihm darreicht – “Copy” und “Pace”.

Doch so funktioniert unser Gehirn nicht. Das Spiel Stille Post ist dafür das beste Beispiel. 

Ohne große Umschweife erläutert Autor und Lernexperte Nick Shackleton-Jones kurz und bündig, wie Lernen tatsächlich funktioniert:

the deeper the personal significance, the more reliably something is learned – we don’t often repeat our more embarrassing mistakes.
It makes perfect sense for memory to work this way: your memory needs to be efficient, so it only stores the stuff that matters. But which stuff matters? Answer: the stuff that has an emotional impact. This is rather an elegant system, since what has emotional impact to you can be both programmed from birth and shaped by your development. As an infant you can experience pain, then life introduces you to a whole world of pain you didn’t know existed.
Scientists use the expression ‘homeostasis’ to refer to the way in which creatures are set up from birth to seek out conditions that are good for them and avoid those that are bad; at the most primitive level, pain and pleasure, fear and attraction, steer us in the right direction. As big-brained creatures we have the ability to elaborate and extend those reactions to an extraordinary degree, up to and including our choice of smartphone.
Our starting point for the design of any environment designed to help people learn must therefore be the individual, and those things that matter most to them. This, and only this, forms the basis of their learning.

hackleton-Jones, Nick (2019): How People Learn – Designing education and training that works to improve performance. London: Kogan Page Limited. S. 3.
Quelle: pixabay.com

Unser Gehirn benötigt viel Energie. Und unser Körper ist stets darum bemüht, die Energieverteilung und deren Verbrauch zu priorisieren. Demnach wird priorisiert, ob die Energie dafür verwendet wird, etwas Gelerntes nachhaltig mit dem bereits bestehenden Wissen und Erfahrungen zu verknüpfen und dafür die Neuronen zu bauen und umzubauen, oder nicht. Die Bewertung erfolgt anhand der Emotionen, die die Lernerfahrung in uns auslöst. Je stärker die Emotion, desto größer der Eindruck (= impact) und desto höher wird die Relevanz eingeschätzt. Umso wahrscheinlicher ist es, dass diese Erfahrung langfristig in unseren Gehirnen einen Platz findet. 

Hinzu kommt das Verständnis von unserem Gedächtnis. Das Erinnern ist ein Prozess der Rekonstruierung. Es ist ein Irrglaube, dass unsere Gehirne biologische Festplatten sind, auf denen Wissen und Erfahrungen “gespeichert” werden, die wir jederzeit “abrufen” können und uns daher so präsentiert werden, wie wir sie tatsächlich einst erfahren haben. 

Verlernen wir jetzt diese Idee und erlernen, wie das Gehirn wirklich funktioniert

Dafür möchte ich eine Visualisierung nutzen: Wir sehen einen Schlüssel. Wir prägen uns diesen Schlüssel genau ein. Wir lernen den Schlüssel. Unser Gehirn stuft den Schlüssel als relevant ein und unser Körper setzt die nötige Energie frei, damit wir den Schlüssel nachhaltig lernen können. Unsere Neuronen verknüpfen dafür die Erfahrung des Schlüssels mit bereits vorhandenen Erfahrungen. Das neuronale Netz erweitert sich, wortwörtlich, dahingehend, dass es den Schlüssel dort anknüpft, womit wir ihn am stärksten assoziieren.

Einige Tage später erinnere ich mich an den Schlüssel. Was passiert nun in meinem Gehirn, dass ich ihn vor mir sehen kann? Ich rekonstruiere den Schlüssel anhand des neuronalen Abdrucks, den er in meinem Gehirn hinterlassen hat. Dabei rufe ich nicht nur das innere Bild des Schlüssels ab, das ich von ihm habe, sondern auch die damit verbundenen Emotionen, sinnlichen Eindrücke und assoziierten Gedanken und Erfahrungen.

Quelle: pixabay.com

Zum Beispiel kann ich mich gut daran erinnern, dass ich im Auto saß,  auf dem Weg nach Hause, auf der Autobahn A28, kurz vor dem Kreuz bei Wechloy, als ich im Radio vom Sender Deutschlandfunk einen Beitrag hörte, bei dem eine Expertin erklärte, wie der Prozess des sich Erinnerns funktioniert. Die Bedeutung ihrer Erläuterungen war von höchster Relevanz für mich, da ich mich leidenschaftlich für das Thema Lernen interessiere. Deshalb habe ich mir sehr gut gemerkt, worüber sie (zusammengefasst) gesprochen hat. Ich weiß aber weder, wer gesprochen hat, noch an welchem Tag dies geschah, noch um welche Uhrzeit. Denn diese Umstände waren nicht von Relevanz für mich. 

Je mehr ich über diese Erinnerung und das Gesprochene nachdenke, desto mehr verändere ich diese Erinnerung. Denn jedes Mal reflektiere ich den Inhalt der Erinnerung, verknüpfe ihn mit neuen Erkenntnissen und damit Assoziationen. Irgendwann werden auch die Erinnerungen daran, dass ich  gerade im Auto saß, als ich den Beitrag hörte, wo ich entlangfuhr und vielleicht sogar, bei welchem Sender ich den Beitrag gehört habe, zunehmend verblassen, da ich im Gegensatz zum Inhalt des Beitrags nicht mehr darüber nachdenken werde. Mein Gehirn wird mit der Zeit beschließen, den unnötigen “Ballast” zu entfernen und die Energie an dieser Stelle zukünftig zu sparen.

Und damit kann ich gut leben. Ebenso, wie ich damit leben kann, mich nicht zuverlässig daran zu erinnern, wo ich was gelesen oder gehört habe. Denn dank der Erfindung des Internets kann ich mich darauf verlassen, dass ich jederzeit meine Quellen nachträglich recherchieren kann. Anstatt also meine Energie damit zu verschwenden, mir Informationen zu merken, die keine Relevanz für die Bedeutung des Lerngegenstands haben, verwende ich mehr Energie auf das Reflektieren über das Gelernte, wodurch ich neue Verknüpfungen in meinem neuronalen Netz herstelle und dadurch neue Erkenntnisse entdecken werde. 

Zurück zur Bildung

Folgen wir dem neu gewonnen Verständnis darüber, wie unser Gehirn funktioniert, bietet sich für die pädagogische Praxis das Modell des affektiven Kontexts an:

The affective context model says that what are being encoded are your emotional reactions to events and information – how these make you feel. These reactions are the things that thoughts and memories are made up of. By ‘emotional reactions’ I don’t mean ‘happy, sad etc.’ but all of the subtle and largely unconscious emotional reactions you have to events. For example, I imagine you would agree that you have different emotional reactions to different haircuts, or to the sound of a bluebottle, a bumble-bee and a mosquito – but you would struggle to categorize these in simple ‘happy/sad’–type terms. The sound of a mosquito is a very specific feeling – which is why you have a specific set of words for it: ‘the sound of a mosquito’. 

Once more: the affective context model proposes that as you experience events, the events themselves are not stored; instead your reactions to things – for example to the colour green, or the presence of a woman – are stored, and these feelings are then used to conjure up a memory on demand. This emotional trace may then activate the same neurological regions involved in originally perceiving the stimulus (for example in the visual cortex) – effectively ‘re-creating’ a version of it. These versions tend to have huge mistakes, visually speaking, but are affectively sufficiently accurate. Of course, your affective state at the time of recall will also warp up this process – for example if someone has just used the word ‘smashed’ in asking a question about speed. This also accounts for the contest-sensitivity of memory. We may not recognize a ‘scary’ schoolteacher at the supermarket, where they seem far less intimidating. 

As a result, a (testable) prediction that this theory makes is that if you were to find someone from a very different cultural background – such as the jungles of New Guinea, for example – and take them on a tour of New York, the things that they remember would be very, very different from the things that, say, a native New Yorker would remember. This is because they have a very different set of emotional reactions to events. Some events – such as a person laughing – are recognizable from birth, but as we grow up in a culture our emotional reactions are shaped and refined to give us the experience of the world that we share in a culture.

  Shackleton-Jones(2019): S. 26f.
Quelle: pixabay.com

Daraus ergeben sich laut Shackleton-Jones zwei Ansätze des Lernens: Push or Pull. Wenn der Lernende bereits ein Interesse am Lerngegenstand hat, dann ist es die Aufgabe der Lernbegleitung, dem Lernenden Ressourcen zur Verfügung zu stellen und ggf. Orientierung anzubieten, um ihn in seinem Lernprozess zu unterstützen. Der Lernende entscheidet selbst, welche Ressourcen er nutzt und zieht sie sich entsprechend selbstständig heran (= Pull). 

Wenn der Lernende noch kein Interesse am Lerngegenstand hat, dann ist es die Aufgabe der Lernbegleitung, die Relevanz des Lerngegenstands aufzuzeigen, den Lernenden dann an das Thema heranzuführen (= Push), bis der Punkt erreicht ist, ab dem der Lernende sich selbstständig vorhandene Ressourcen nutzbar machen kann (vgl.   Shackleton-Jones (2019): S. 70.).

Dabei empfiehlt Shackleton-Jones mehrere Wege, wie Relevanz erzeugt werden kann:

  • Den Lernenden vor Herausforderungen stellen, die ihn dazu anregen, diese meistern zu wollen
  • Dem Lernenden eine Geschichte erzählen, die ihm die Relevanz des Lerngegenstands nahbar macht, ihn also emotional berührt (oder in Resonanz bringt)
  • Mit dem Lernenden spielen

Alle drei Wege müssen dabei an das Vorwissen bzw. den Vorerfahrungen des Lernenden anknüpfen. Die Herausforderung muss in jener Balance liegen, dass sie schwer genug ist, damit sie ihn herausfordert, aber nicht zu schwer ist, damit sie ihn nicht demotiviert. Die Geschichte muss kontextuell und kulturell zu dem Rezipienten passen, damit sie ihn emotional berühren kann. Das Spiel muss den Fähigkeiten des Lernenden gerecht werden und zielführend sein.

Im Hinblick auf das zur Verfügung stellen von Ressourcen empfiehlt Shackleton-Jones drei Schlüsselkomponenten, die diese Ressourcen erfüllen sollten:

  1. “Utility: they have to be genuinely useful (and not just some stuff that you threw together because you thought it looked useful).”
  2. “Accessibility: they have to be the easiest thing to access and use when and where people need to access them (or they will use something else).”
  3. “Awareness: People need to know where the resources are (so you may need to do some marketing or awareness-raising).” (vgl.  Shackleton-Jones (2019): S. 104.)

Bei all dem ist die Expertise der Lernbegleitung gefragt, einen entsprechenden Lernraum zu gestalten, der all diesen Anforderungen gerecht wird.

Das vollständige Buch ist hier kostenlos abrufbar: https://docs.google.com/document/d/15bTj8qyzC0HLpzr6ETigBSrhdXqIsEUIkW0uQKB5z8w/edit?usp=sharing


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