Aus „Bildung 4.0 – Eine Vision für den systemischen Wandel„, von Madita Hänsch

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Artikel 1, § 1, GG

Ich bewerte diese zwei Sätze als einen Meilenstein in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Mit diesem Gesetz wird anerkannt, dass jeder Mensch eine ihm angeborene Würde besitzt, die unantastbar ist. Sie ist und sie darf nicht angetastet werden. Mehr noch, es ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, diese vor Angriffen und Übergriffen zu schützen. 

Leider fehlt diesem Gesetz die Fußnote, die erklärt, was unter der Würde des Menschen zu verstehen ist. Im Folgenden daher eine Erläuterung des Begriffs – wobei ich bewusst die Philosophie außen vor lassen werde und mich stattdessen auf die reine Wortbedeutung beziehe. 
Laut dem Duden definiert der Begriff Würde einen “Achtung gebietende[n] Wert, der einem Menschen innewohnt” und das “Bewusstsein des eigenen Werts”. Wir verknüpfen den Begriff der Würde mit dem Wert des Menschen, der ihm innewohnt. Aber warum sprechen wir dann von Würde und nicht von Wert? Hier hilft uns der Duden erneut weiter: Wert sei die “einer Sache innewohnende Qualität, aufgrund dere[r] sie in einem gewissen Maße begehrenswert ist.” 
Das Wort Wert verwenden wir, um Dingen eine Qualität zuzuschreiben, und sie dahingehend zu bemessen. In Abgrenzung dazu beschreibt das Wort Würde den angeborenen, unantastbaren Wert des Menschen als Lebewesen. 
Als eine Folge des Darwinismus, wie bereits angesprochen, und der Kapitalisierung der Gesellschaft, kommt es immer wieder zum Missbrauch des Begriffs “Wert”, indem fälschlicherweise der Mensch zu einer Sache herabgestuft und ihm ein messbarer “Wert” zugeschrieben wird. 
Nehmen wir jedoch den ersten Artikel unseres Grundgesetzes ernst, so ist es gegen das Recht, einem Menschen einen solchen “Wert” zuzuschreiben. Stattdessen erkennen wir seine Würde an, die unantastbar und damit weder messbar, noch vergleichbar oder zuschreibbar ist – die Würde ist

Quelle: pixabay.com

Stephan Marks beschreibt darüber hinaus, dass die Würde über vier grundlegende Bedürfnisse des Menschen in Erscheinung tritt: “Die Würde des Menschen zu wahren bedeutet, ihn in seinen Grundbedürfnissen nach Schutz, Zugehörigkeit, Integrität und Anerkennung zu respektieren und zu unterstützen.” (Marks, Stephan (2022): Die Würde des Menschen ist verletzlich – Was uns fehlt und wie wir es wiederfinden. Ostfildern: Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG. S. 133.)
Werden diese Bedürfnisse eines Menschen verletzt, wird auch die Würde verletzt. Diese Verletzung löst bei den Betroffenen ein ganz spezifisches Gefühl aus: Scham. Demnach agiere die Scham als Hüter der Würde. Er führt diese These weiter aus, indem er erklärt, dass derjenige, der seine Scham unterdrückt, schamlos handle. Im Umkehrschluss sei eine Gesellschaft, die bewusst mit Scham umginge, eine würdevolle Gesellschaft (vgl. Marks (2022): S. 58.). Die Anerkennung der Scham ermöglicht demnach das Bewusstsein über die grundlegenden Bedürfnisse des Menschen und fördere damit die Anerkennung dieser und letztendlich der Würde des Menschen, die dem zugrunde liegt.
Der Schlüssel zu einer würdevollen Gesellschaft liegt in den vier genannten Grundbedürfnissen. Wie können wir einen Bildungsraum schaffen, der gleichsam ein Würderaum ist? Marks beschreibt es im Kontext Schule wie folgt:

Ich stelle mir die vier Aspekte der Würde wie ein Mobile vor, das in jeder Situation neu ausbalanciert werden muss. Um dies an einem alltäglichen Beispiel aus der Schule zu illustrieren: Ein Schüler hat eine Idee oder Frage.
Zum einen möchte er mit diesem Anliegen anerkannt, gesehen und gehört werden. Die Botschaft lautet etwa: ‚Seht doch her! Seht meine Idee!‘
Zum Zweiten möchte der Heranwachsende sich zugleich schützen. Die Botschaft an sich selbst heißt: ‚Wenn ich mich mit dieser Idee oder Frage zeige: werde ich dafür ausgelacht oder verachtet? Sollte ich das, was mir so wichtig ist, dann besser nicht zeigen?‘
Zum Dritten möchte der Schüler dazugehören: ‚Gehöre ich noch zur Klassengemeinschaft, wenn ich mein Anliegen vorbringe? Oder werde ich als Streber ausgegrenzt?‘
Zum Vierten möchte der junge Mensch sich treu bleiben: ‚Wenn ich aber meine Frage oder Idee nicht einbringe: bin ich mir selbst dann untreu geblieben? Wie wichtig ist es mir, dazuzugehören? Oder sage ich möglicherweise etwas, nur um dazuzugehören, um mich der Gruppe anzubiedern?‘
Sich zeigen oder schützen, dazugehören oder seinem eigenen Weg folgen – diese vier Bedürfnisse müssen in jeder Situation aufs Neue gegeneinander abgewogen werden.

Marks (2022): S. 30.

Für die Gestaltenden von Bildungsräumen leitet sich daraus die Aufgabe ab, diese Bedürfnisse der Lernenden zu erfüllen bzw. ihnen den nötigen Raum zu geben, damit sie sich selbst diese Bedürfnisse erfüllen können. Aus Perspektive der Scham als Hüter der Würde gesprochen: Ein Würderaum ist ein Raum, in dem die Menschen nicht fürchten müssen,  beschämt zu werden. Um noch konkreter zu werden, wie können die vier Bedürfnisse befriedigt werden?

  1. Heranwachsende benötigen integre Menschen als Vorbilder (vgl. Marks (2022): S. 149.)
  2. Keine Situation, in der Menschen in ihrer Würde verletzt werden, darf stillschweigend übergangen werden – die verantwortliche Lernbegleitung muss eingreifen und hat die Möglichkeit, die schambesetzte Situation in eine fruchtbare Lernreise zu verwandeln (vgl. Marks (2022): S. 151.)
  3. Jemandem Anerkennung zu zollen, bedeutet, ihm wohlwollend und mit Wertschätzung zu begegnen, ihn zu respektieren und ihm positive Rückmeldung zu geben – die Lernbegleitung richtet den Fokus auf die Potenziale und weniger auf die Schwächen (vgl. Marks (2022): S. 153.)
  4. Wenn jemand auf seiner Lernreise scheitert und deshalb Scham empfindet, ist es die Aufgabe der Lernbegleitung, dem Lernenden zu helfen mit der Scham konstruktiv umzugehen, indem sie in Lernanstrengungen verwandelt wird (vgl. Marks (2022): S. 157f.)
  5. Zugehörigkeit kann aktiv gefördert werden, indem kooperative gegenüber konkurrierenden Spielen bevorzugt werden (vgl. Marks (2022): S. 174.)
  6. Die Integrität eines Lernenden kann aktiv gefördert werden, indem dieser beispielsweise herangezogen wird, leistungsschwächeren Mitschüler:innen zu helfen
  7. Um Lernenden Anerkennung zu schenken, sollten sie den Raum erhalten, Erfolgserlebnisse erfahren zu können, indem sie sich nicht mit anderen vergleichen, sondern indem sie ihren eigenen vorherigen mit ihrem aktuellen Lernstand vergleichen können (vgl. Marks (2022): S. 175.)

Voraussetzung dafür, dass eine Lernbegleitung solche Räume gestalten kann, ist, dass sie selbst einen bewussten Umgang mit der eigenen Scham und demnach der eigenen Würde gefunden hat. 

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Wenn wir über das Bewusstsein sprechen, schlagen wir einen Bogen von der Würde zum Selbst des Menschen. Denn dieses Selbst ist dank der Neurowissenschaft konkret messbar geworden. Joachim Bauer beschreibt es wie folgt:

Die Entdeckung der neuronalen Selbst-Netzwerke – sie werden im Englischen als ‚Self-Networks‘ bezeichnet – ist erst wenige Jahre alt. Sie haben ihren Sitz im Stirnhirn, einer Gehirnregion, die zum Zeitpunkt der Geburt neurobiologisch noch unreif und nicht funktionsfähig ist. Menschliche Säuglinge sind zwar erlebende Subjekte und besitzen die jedem Menschen zukommende unantastbare Würde, über ein Selbst verfügen sie jedoch – noch nicht.

Bauer, Joachim (2019): Wie wir werden, wer wir sind – Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz. München: Karl Blessing Verlag. S. 15.

Aus neurowissenschaftlicher Perspektive ist das Selbst dem Menschen nicht angeboren. Dieser Bereich des Gehirns beginnt erst sich im frühkindlichen Stadium zu entwickeln:

Der Säugling kommt ohne ein Selbst zur Welt. Die Anfänge der Selbst-Werdung vollziehen sich in den ersten etwa vierundzwanzig Lebensmonaten und beruhen auf Resonanzen, die der Säugling in seinen Bezugspersonen auslöst und die zu ihm zurückkehren. Seine Bezugspersonen dienen dem Säugling als eine Art externes Selbst.

 Bauer (2019): S. 14.

Das Selbst ist das Bild, das ein Mensch von sich selbst macht. Es spiegelt wieder, wie ein Mensch sich identifiziert, einschätzt, wahrnimmt. Dabei ist das Selbst angreifbar. Es kann Schaden erleiden und durch Manipulation beeinflusst werden. Es kann auch sich selbst Schaden zufügen (vgl.  Bauer (2019): S. 16.).

Wenn wir also nachweisen können, dass ein dezidierter Bereich im menschlichen Gehirn aktiviert wird, wenn der Mensch über sich selbst nachdenkt (vgl. Bauer (2019): S. 18f.), dann können wir daraus schlussfolgern, dass in diesem Selbstverständnis auch das Bewusstsein über die eigene Würde liegt – je nachdem, ob das Selbst sich dieser unantastbaren Würde bewusst ist oder nicht. Doch allein das Bewusstsein über meine eigene Würde macht sie deshalb nicht unantastbar. Unantastbar ist sie dann, wenn kein anderer Mensch es wagt, sie anzutasten, weil er sie als solche anerkennt und mich nicht beschämt.
Damit ein Mensch die Würde des anderen anerkennen kann, ist es förderlich, dass er sich seiner eigenen Würde ebenfalls bewusst ist. 
Um es noch einmal zu betonen: Dieses Bewusstsein zu wecken und vorzuleben muss ein grundlegendes Prinzip im Bildungssystem sein. Denn hier liegt der Schlüssel, um eine Gesellschaft zu gestalten, die das Gesetz der Unantastbarkeit der Würde umsetzt. 

Darüber hinaus gilt es, die Verantwortung wahrzunehmen, dass gerade in der Kindheit und Jugend die sensible Phase der Selbstwerdung auch eine Phase ist, in der das Selbst und die Würde besonders angreifbar sind. Es ist also entsprechend unserem Grundgesetz geboten, diese zu schützen:

Die Persönlichkeit entwickelt sich im Laufe des Lebens eines Menschen und ist von seinen Lebensbedingungen abhängig. Das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit umfasst daher den Anspruch auf den Schutz vor (psychischer) Gewalt und auf gesunde Entwicklungsbedingungen von Anfang an. Menschenrecht für Kinder umzusetzen bedeutet, die besonderen Bedingungen der Kinderzeit hervorzuheben und Rahmenbedingungen für eine optimale Persönlichkeitsentwicklung der Kinder zu schaffen.

Pohl, Gabriele (2019): Die Würde des Kindes ist antastbar – Plädoyer für eine Kindheit ohne Beschämung. Wiesbaden: Springer. S. 2.

Hier geht es zum vollständigen Buch, kostenlos abrufbar: https://docs.google.com/document/d/15bTj8qyzC0HLpzr6ETigBSrhdXqIsEUIkW0uQKB5z8w/edit?usp=sharing


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