Aus „Bildung 4.0 – Eine Vision für den systemischen Wandel„, von Madita Hänsch
Wie wir bereits mithilfe der Physik und der Biologie lernen durften: Alles ist mit allem verbunden und das Universum besteht aus Beziehung.
Die Verbundenheit durchzieht demnach alles. Betrachten wir es mit Bezug auf den Menschen und sein Umfeld folgendermaßen:
Visualisieren wir dank Ken Wilbers Modell der vier Quadranten den Menschen in vier Dimensionen der Verbundenheit:
- innerlich-individuell = Ich = Verbindung zu meinem Selbst
- äußerlich-individuell = Es = Verbindung zu meinem Körper
- innerlich-kollektiv = Wir = Verbindung zu meiner Wirklichkeit
- äußerlich-kollektiv = Sie = Verbindung zu meinen Mitmenschen
Die Betrachtung dieser vier Dimensionen der Verbundenheit, der vier Quadranten nach Ken Wilber, erlaubt es uns, für jede dieser Dimensionen eine entsprechende Strategie zu entwickeln, um die Verbundenheit, die Beziehungen, zu pflegen (vgl. Wilber (2001): S. 112.). Dabei weist Wilber selbst darauf hin:
Lassen Sie mich darauf hinweisen, daß […] jeder solche integrale Ansatz mit äußerster Sorgfalt, großer Fürsorge und viel Mitgefühl verwirklicht werden muß. Keine dieser Ebenen oder Linien oder keiner dieser Quadranten ist irgendwie in einem starren, prädeterminierten oder urteilenden Sinne gemeint. Die Entwicklungsforschung ist nicht darauf aus, die Menschen in Schubladen einzuordnen oder sie als unterlegen oder überlegen einzustufen. Ihre Modelle sollen vielmehr als Richtschnur für die Entwicklung von Potenzialen dienen, die bisher nicht ausgeschöpft wurden. Die Hauptdirektive fordert uns auf, die notwendigen, vitalen und einzigartigen Beiträge zu würdigen und zu schätzen, die jede einzelne sich entfaltende Welle des Bewußtseins uns liefert. Auf diese Weise können wir die Gesundheit der gesamten Spirale [siehe ‘Spiral Dynamics’: Beck, Don Edward & Cowan, Christopher C. (2020): Spiral Dynamics – Leadership, Werte und Wandel. Bielefeld: Media GmbH.] schützen und fördern und nicht nur die eines privilegierten Teilbereichs. Zugleich fordert sie uns auf, ein Konzept eines vollständigeren Bewußtseinssprektrums zu liefern, eine volle Entwicklungsspirale, damit Individuen oder Kulturen (unsere eingeschlossen), die einiger der tieferen oder höheren Dimensionen des menschlichen Potentials nicht gewahr sind, sich dafür entscheiden können, auf der Grundlage dieser außergewöhnlichen Ressourcen zu handeln. Das könnte dann dazu beitragen, Bewegung in gewisse festgefahrene Situationen zu bringen, die noch nicht auf weniger integrale Ansätze angesprochen haben.
Wilber (2001): S. 118.
Sein integraler Ansatz verfolgt das Ziel, ganzheitlich zu denken und zu handeln. Wir üben uns mit diesem Verständnis der Welt darin, stets gleichzeitig das Teil und das Ganze zu betrachten. Wenn wir uns also der Aufgabe widmen, den Menschen in seiner Potenzialentfaltung zu unterstützen, dann denken wir daran, dass Menschen individuelle, komplexe Wesen sind, die auf allen vier Dimensionen ihre Grundbedürfnisse gestillt wissen müssen, ehe sie ihr Potenzial voll ausschöpfen können. Die Verbundenheit ist ein dem Menschen innewohnendes Grundbedürfnis, das gepflegt werden muss.
Da wir bereits über Darwin gesprochen haben, blicken wir nun auf Descartes. Er vertrat die Ansicht, dass der Mensch 1. die Trennung und 2. die Unterwerfung der Natur anstreben müsse, um wahrhaft das Ideal des Menschen erreichen zu können, das allein in der geistigen Entwicklung liege. Er verkannte damit die Verbundenheit als Grundbedürfnis des Menschen.
Dazu gehört die Verbundenheit mit der Umwelt und mit der Natur – kurz, mit der Welt. Wir mögen die Natur von der Kultur differenzieren können, aber unser Lebensraum ist und bleibt die Natur per Definition. Und wenn wir bereits akzeptiert haben, dass wir mit allem verbunden sind, ist es nur logisch, auch mit der Natur verbunden zu sein. Verabschieden wir uns also endgültig von dem Einfluss von Descartes und Darwin’s These zur Konkurrenz als Motor der Evolution, und entdecken das Potenzial der Kommunikation, Kreativität und Kooperation, kurz, der Verbundenheit.
Zurück zur Bildung. Wenn ich es mir zur Aufgabe mache, den Menschen in seiner Potenzialentfaltung zu unterstützen, dann muss ich ihn darin unterstützen, also ihm die nötigen Rahmenbedingungen zur Verfügung stellen, damit er seine Verbundenheit, seine Beziehungen zur Welt, in positivem Maße pflegen kann, sodass sie zu seiner Potenzialentfaltung beitragen:
Die Grundidee der integralen transformativen Praxis (ITP) ist einfach: Je mehr Aspekte unseres Seins wir gleichzeitig schulen, desto wahrscheinlicher wird diese Transformation eintreten. Mit anderen Worten: Eine ITP versucht, so ‚alle Quadranten, alle Ebenen‘ wie möglich zu sein. […] ‚Alle Ebenen‘ bezieht sich auf die Wellen der Existenz, von der Materie über den Körper zum Geist zur Seele und zum GEIST; ‚alle Quadranten‘ bezieht sich auf die Ich-, die Wir- und die Es-Dimension (oder auf das Ich, auf Kultur und Natur; oder auf Kunst, Moral und Wissenschaft; oder auf erste, zweite und dritte Person). Dementsprechend bedeutet eine ‚alle Quadranten, alle Ebenen‘-Praxis, daß man physische, emotionale, mentale und spirituelle Wellen in Ich, Kultur und Natur übt.
Wilber (2001): S. 155.
Ein weiteres Argument für Kooperation und gegen Konkurrenz ist die Entdeckung des sozialen Lernens. Diese Fähigkeit macht uns als Art Mensch besonders erfolgreich. Sie erlaubt es uns, unser Wissen über Generationen hinweg zu potenzieren und damit diese enorme Entwicklung unserer Gesellschaft(en) zu gestalten.
Dazu ein kleiner Exkurs in die Verhaltensforschung:
Diese Grafik zeigt die Ergebnisse eines Experiments zur Messung der Intelligenz verschiedener Arten im Vergleich. Sie wurden allen denselben Intelligenztests ausgesetzt. Während bei den Tests zum räumlichen Verständnis, Rechnen und Kausalität unsere nächsten Verwandten ebenso gut abschnitten wie menschliche Kleinkinder, wies das Ergebnis zum sozialen Lernen eine auffällig große Differenz auf. Hier sind Kleinkinder in jeder Hinsicht den Affen überlegen. Unsere Fähigkeit zum sozialen Lernen zeichnet unsere auf diesem Planeten überlegene Intelligenz aus. Je ausgeprägter dabei unsere soziale und emotionale Intelligenz ist, desto erfolgreicher unser Lern- und Entwicklungsprozess:
Wir sind darauf ausgerichtet, Verbindungen mit den Menschen unserer Umgebung herzustellen. Und das ist kein Handicap, sondern unser größtes Kapital. Soziale Menschen sind nämlich nicht nur eine nettere Gesellschaft, sie sind letztlich auch klüger.
Bregman (2021): S. 91ff.
Der einfachste Weg, das zu verstehen, ist, sich einen Planeten mit zwei Arten von Menschen vorzustellen: den Genies und den Nachahmern. Die Genies sind brillant: Jeder Zehnte entwickelt während seines Lebens eine große Erfindung (sagen wir mal, eine Angelrute zum Fischefangen). Die Nachahmer sind viel dümmer. Von tausend Nachahmern lernt gerade mal einer, selbst zu fischen. Mit anderen Worten: Die Genies sind hundertmal so schlau wie die Nachahmer.
Aber die Genies haben einen Nachteil. Sie sind nicht sonderlich sozial. Im Durchschnitt haben sie nur einen einzigen Freund, dem sie, wenn sie die Angel erfinden, das Fischen beibringen. Die Nachahmer haben zehn Freunde, also sind sie zehnmal sozialer. Nehmen wir an, dass es nicht so einfach ist, jemandem das Fischen beizubringen, und dass es in nur der Hälfte aller Fälle klappt.
Die entscheidende Frage ist nämlich: Welche Gruppe wird am meisten von der Erfindung profitieren? Die Antwort lautet, so der Anthropologe Joseph Henrich, dass eins von den fünf Genies das Fischen lernen wird, von denen die Hälfte es selbst herausgefunden hat und die andere Hälfte es von anderen abgeschaut hat. Am Ende beherrschen also lediglich 20 Prozent der Genies die Kunst des Fischens. Und bei den Nachahmern? Nur 0,1 Prozent werden sich das Fischen selbst beibringen, aber trotzdem können es 99,9 Prozent, weil sie es von anderen Nachahmern lernen.
Eigentlich waren die Neandertaler eine Art von Genies. Sie hatten eine größere individuelle, aber eine kleinere kollektive Hirnkapazität. Für sich allein war ein Homo neanderthalensis vielleicht klüger als ein Homo sapiens, aber dieser lebte eben in größeren Gruppen, wechselte die Gruppe häufiger und konnte wahrscheinlich besser Dinge abschauen. Wenn Neandertaler ein rasend schneller Computer waren, dann waren wir ein altmodischer PC – aber mit WLAN. Wir waren dümmer, aber besser miteinander vernetzt.
Versetze dich einmal in deine Schulzeit zurück. Welche Lehrer:innen haben bei dir einen Eindruck hinterlassen und du hast in ihrem Unterricht besonders erfolgreich gelernt? Warum waren sie erfolgreicher als andere Lehrer:innen? Waren sie dir besonders sympathisch? Konnten sie dich für das Wissen begeistern, das sie dir aufbereitet hatten? Hattest du das Gefühl, dass du eine positiv konnotierte Beziehung zu ihnen aufbauen konntest? Welche Lehrer:innen waren im Gegensatz dazu weniger erfolgreich, einen Eindruck bei dir zu hinterlassen und warum hast du in ihrem Unterricht weniger erfolgreich gelernt? Waren sie dir unsympathisch? Aus welchem Grund? Siehst du einen Zusammenhang zwischen der Sympathie und dem Erfolg deines Lernens? Sympathie gegenüber der Lehrkraft und Sympathie gegenüber dem Lerngegenstand? Beide beeinflussen den Lernerfolg. Je höher die Sympathie für die Person und / oder den Lerngegenstand ist, desto höher der Lernerfolg. Es ist eine einfache Rechnung, die im folgenden Kapitel zur Resonanz weiter vertieft wird.
Das vollständig Buch ist kostenlos hier abrufbar: https://docs.google.com/document/d/15bTj8qyzC0HLpzr6ETigBSrhdXqIsEUIkW0uQKB5z8w/edit?usp=sharing
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