Ein Skandal geht durch die deutsche Bildungswelt. Da wagt es doch tatsächlich ein Bildungsministerium in Sachsen-Anhalt, aufgrund fundierter wissenschaftlicher Erkenntnisse, neue Unterrichtsmodelle zu erproben? Ungeheuerlich!
Worum geht es? Das Bildungsministerium Sachsen-Anhalt testet mit 12 Sekundar- bzw. Gemeinschaftsschulen im kommenden Schuljahr (2022/2023) das 4+1-Modell. Nach diesem Modell findet zukünftig nur noch an vier Tagen der reguläre Präsenzunterricht statt. Für den fünften Tag können die Schulen frei entscheiden, ob ein digital gestützter Distanzunterricht oder ein praktisch orientierter Lerntag, z.B. in Unternehmen, stattfindet. Dabei formuliert das Ministerium bewusst vage und frei, wie genau dieser fünfte Tag gestaltet werden kann, denn „mit dem Modellprojekt soll Schulen im Rahmen ihrer jeweiligen Bedingungen mehr Flexibilität bei der Unterrichtsplanung und -durchführung gegeben werden.“ (Quelle: Document (sachsen-anhalt.de))
Und genau diese Gestaltungsfreiheit sorgt für reichlich Kritik in den konservativen Lagern. So äußert sich Torsten Wahl, Landesvorsitzender des Lehrerverbands in Sachsen-Anhalt, wie folgt: „Vier Tage Schule und dann? Wie der 5. Tag als Distanzlerntag oder führ ähnliche Zwecke genutzt werden soll, das ist noch offen. Hier wird eindeutig Lebens- und Lernzeit auf Kosten der Schülerinnen und Schüler vergeudet.“ (Quelle: https://vbe-lsa.de/lehrkraeftemangel-im-land-treibt-immer-mehr-komische-blueten-4-plus-1-modell-soll-bildung-retten/)
Schauen wir uns diese Aussage genauer an. Offensichtlich ist Torsten Wahl davon überzeugt, dass junge Menschen ausschließlich in der Schule lernen können. Indem er aussagt, dass Zeit, die nicht damit verwendet wird, in staubigen Klassenzimmern zu verbringen, vergeudete Zeit ist. Diese Aussage impliziert, dass Herr Wahl der Meinung ist, dass der Mensch ausschließlich in formalen Settings wie dem Präsenzunterricht lernen kann.
Ich vage sogar zu behaupten, dass für viele junge Menschen gilt, dass sie außerhalb der Schule deutlich erfolgreicher lernen, als innerhalb. Allerdings nicht pauschal betrachtet, sondern abhängig von einigen individuellen Faktoren (hier lohnt es sich durchaus, genauer hinzuschauen, um spannende Erkenntnisse für die Unterrichtsgestaltung zu erlangen).
Ähnlich wie Herr Wahl äußert sich der Präsident desselben Lehrerverbands, Hans-Peter Meidinger: „Das heißt, dass es gar nicht mehr auf die Fachstundentafel ankommt, sondern dass man da quasi machen kann, was man will.“ Er befürchte einen „dauerhaften Niveauverlust“. (Quelle: Sachsen-Anhalt testet Vier-Tage-Woche in Schulen – ZDFheute)
Ja, ich musste das Wort „Fachstundentafel“ ebenfalls erst einmal googeln: „In einer Stundentafel wird durch die Schulverwaltung – in Deutschland durch die Kultusministerien – die Anzahl der Unterrichtsstunden festgelegt, die in den verschiedenen Schularten und Klassen- bzw. Jahrgangsstufen auf die jeweiligen Unterrichtsfächer entfallen.“ (Quelle: Stundentafel – Wikipedia)
Herr Meidinger hat das Bildungsministerium Sachsen-Anhalt offenbar falsch verstanden. Zwar legt das Ministerium nicht exakt fest, wie der fünfte Tag gestaltet werden soll, aber dass er gestaltet wird, steht außer Frage. Die jungen Lernenden werden also nicht nach Hause geschickt und haben Freizeit. Sie werden nicht einmal an jeder der teilnehmenden Schulen unbedingt nach Hause geschickt, sondern vielleicht in ein Unternehmen oder zu einem anderen außerschulischen Lernort.
Die Kritik, dass an diesem flexiblen Tag die „Fachstundentafel“ keine Rolle spielt, impliziert, dass die dort festgelegten Lernziele nicht außerhalb des Präsenzunterrichts erreicht werden könnten. Auch hier kann ich keine pauschale Aussage treffen. Abhängig von Lernziel und der einzelnen lernenden Person ist ein entsprechendes Lernsetting erforderlich. Zweifellos ist das „Lernen in Präsenz“, also in einem direkten sozialen Austausch zwischen Menschen, in vielerlei Hinsicht das erfolgreichste Lernsetting (wobei es auch hier eine große Vielfalt an Möglichkeiten der Gestaltung gibt). Doch ich stelle in Frage, dass dieser direkte soziale Austausch ausschließlich innerhalb der Mauern eines Schulgebäudes erfolgreich sein kann – und nicht an anderen außerschulischen Lernorten, wie oben bereits betont. Darüber hinaus kann es für einzelne junge Lernende sehr förderlich sein, wenn sie die Möglichkeit eines freien Lerntages in ihren eigenen vier Wänden erhalten, wo sie selbstständig und in Ruhe lernen können. Genauso kann solch ein selbstständiges Lernen für andere junge Lernende im Gegenteil alles andere als förderlich sein, weil sie andere Lernbedürfnisse haben. Was zu einem erfolgreichen Lernsetting gehört, ist von lernender Person zu lernender Person höchst individuell.
Und genau hier kommen wir auf die eigentliche Grundlage des 4+1-Modells zu sprechen. Das Bildungsministerium Sachsen-Anhalt gibt den Modellschulen im kommenden Schuljahr die Möglichkeit, die unterschiedlichsten Unterrichtsformen an besagtem fünften Tag zu testen. Mehr noch, sie ruft sie ausdrücklich dazu auf. Und betont zusätzlich, dass mehr als die 12 teilnehmenden Schulen, im Prinzip jede Schule, diese Möglichkeit hätte. Jedoch sollen mit dem Modellprojekt die Auswirkungen des 4+1-Modells an den teilnehmenden Schulen gezielt evaluiert werden. Und mit dieser Evaluation wird geprüft, ob das Modell für den Regelschulbetrieb sinnvoll ist.
Letztendlich geht es also darum, dass Schulen den fünften Tag nutzen, um „neue“, also nicht-konventionelle, Unterrichtsmodelle zu testen. Das kann neben dem besagten digital gestützten Distanzunterricht und dem „Praxislerntag“ auch zum Beispiel der FREI DAY (www.frei-day.org) sein. Oder ein wöchentlicher Ausflugstag. Oder, oder, oder. Die Hauptsache ist, dass die Schulen ihre gewohnten Bahnen verlassen und mit dem Modellprojekt ruft das Bildungsministerium aktiv dazu auf. Dafür verdient es nichts anderes als Applaus und Respekt.
Während der Präsident des Lehrerverbandes außerdem über eine Mehrbelastung für die Lehrkräfte klagt, die dieser fünfte Tage hervorrufen würde, weil er außerordentliche Vor- und Nachbereitung erfordere, beschuldigen andere, vornehmlich politische, Stimmen das Bildungsministerium, mithilfe des 4+1-Modells den Lehrermangel beschönigen zu wollen. Offenbar scheinen sich die Kritiker zunächst nicht einig zu sein, ob dieses Modell dazu führt, dass Lehrkräfte eine Mehrbelastung erfahren, oder ob das Modell letztendlich dazu dient, die Arbeitswoche von Lehrkräften zu verkürzen und damit den Personalmangel zu kompensieren.
Zunächst tritt dadurch offensichtlich zu Tage, dass die Kritiker:innen sich nicht gründlich mit dem 4+1-Modell auseinandergesetzt haben. Wie bereits betont, ist der fünfte Tag kein freier Tag für die jungen Lernenden, sondern ein Tag, an dem alternative Unterrichtsmodelle erprobt werden sollen. Das kann zunächst zu einer Mehrbelastung der Lehrkräfte führen, weil sie ihre Zeit nutzen müssen, um sich mit solchen Alternative auseinanderzusetzen. Es muss jedoch nicht zwangsläufig zu einer Mehrbelastung führen. Hier wird zweifellos die Auswertung zum Ende der Testphase Erkenntnisse bringen. Jedoch sollte die befürchtete Mehrbelastung kein Grund sein, dieses Modellprojekt abzulehnen. Außerdem haben sich alle teilnehmenden Schulen freiwillig gemeldet. Die Schulleitungen und Lehrkräfte haben sich also bewusst dazu entschieden, die ggf. anfallende Mehrarbeit in Kauf zu nehmen – wenn sie denn tatsächlich anfällt.
Das Projekt stößt öffentlich dementsprechend nicht nur auf (fachlich nicht fundierte) Kritik, sondern auch auf Bewunderung. Die bildungspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion in Mecklenburg-Vorpommern, Sabine Enseleit, fordert gar eine Nachahmung für ihr Bundesland: „Dieses Modellprojekt, das in Sachsen-Anhalt jetzt umgesetzt wird, fußt auf fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu den sich verändernden Lern- und Lehrbedingungen. Lernen muss nicht zwangsläufig im Klassenzimmer stattfinden.“ (Quelle: FDP MV fordert Prüfung des 4+1 Modells auch in Mecklenburg-Vorpommern – FDP-AKTIV)
Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und fordere alle Schulen, deutschlandweit, dazu auf, ihre bereits vorhandenen Freiheiten völlig auszuschöpfen und die alten Fesseln von Tradition und Konvention abzulegen und endlich den neuesten Erkenntnissen aus Bildungswissenschaft, Neurowissenschaft, Psychologie und Soziologie Gehör zu schenken und mit jenen Methoden, die inzwischen vielfach und teilweise seit Jahrzehnten in Modellschulen erprobt sind, mutig ins 21. Jahrhundert der Bildung einzutreten.
Und wieso reden wir nicht ernsthaft über eine 4-Tage-Woche für junge Lernende oder andere flexible Zeitmodelle? Wieso soll dies nur ihren Eltern vorbehalten sein, die schon jetzt weniger arbeiten, als ihre Kinder in den Schulen verstauben? Wieso werden auch hier die Erkenntnisse aus den zahlreichen Studien des internationalen Arbeitsmarktes nicht auf die Bildungswelt übertragen? Ist es wirklich verklärt, davon auszugehen, dass die positiven Effekte auf psychische und physische Gesundheit, die bei verkürzten Arbeitswochen vielfach nachgewiesen wurden, nicht auch bei unserem Nachwuchs stattfinden werden, wenn sie endlich wieder Zeit zum Spielen haben? Zum Faulenzen und Träumen?
Und was wäre verkehrt daran, dass diese verkürzte Arbeitswoche außerdem unseren bundesweiten Fachkräftemangel im Bildungsbereich kompensiert? Damit geben wir nicht nur einen Teil der Verantwortung zur Erziehung und Bildung zurück an die Hauptbezugspersonen – die Eltern, die größtenteils bereits weniger arbeiten als ihre Kinder in der Schule verstauben, und daher streng genommen genug Zeit zur Verfügung haben, um sich der Bildung und Erziehung ihrer eigenen Kinder zu widmen – sondern sorgen außerdem dafür, dass die bereits (verschärft durch den Personalmangel, aber auch aufgrund weiterer Faktoren) an der Belastungsgrenze arbeitenden Fachkräfte in den Schulen und anderen Bildungshäusern von den vielfach belegten positiven Effekten auf physische und psychische Gesundheit profitieren würden – und damit die Qualität des Unterrichts wieder stiege.
Quelle Beitragsbild: www.pixabay.com
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