Im Mai 2021 schrieb das BMBF unter der CDU-geführten Bundesregierung einen mit satten 630 Millionen Euro Steuergeld gefüllten Fördertopf für eine „Nationale Bildungsplattform“ aus. Ein raunen ging durch die Bildungsbranche. In manch einem Blick spiegelten sich schon die Dollarscheine. Startups und Bildungsvisionär:innen krempelten die Ärmel hoch. Sollte es nun wirklich geschehen, dass Deutschland sein Bildungssystem gründlich digitalisieren wird?
Ein Jahr später ist die Ernüchterung bereits groß und wer sich zum Thema umhört, bekommt viele fragende Blicke. Die Nationale Bildungsplattform? Was soll das eigentlich werden?
Werfen wir zunächst einen Blick auf den Stand der Dinge. Seit der Ausschreibung lief ein wenig Wasser den Bach hinunter. Anja Karliczek, damalige Bildungsministerin, hatte zunächst 150 Millionen Euro freigegeben, um die Entwicklung von vier Prototypen der Plattform zu fördern. „Die Plattform ist Kernstück eines neuen digitalen Bildungsraums für Deutschland und einer Modernisierung der Bildung insgesamt“, so die Politikerin (https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/nationale-bildungsplattform-1898680).
Im Grunde wünschte sich die Politik zu diesem Zeitpunkt eine Meta-Plattform, die über Schnittstellen alle bisher existierenden Plattformen von staatlichen und privaten Anbietern, die Bildungsinhalte bereitstellen, bündelt. Plus dem Anspruch, dass dieser Inhalt mithilfe der Funktionen der Plattform (die bis dato noch nicht definiert waren) den Zugang zu diesen Inhalten erleichtert und barrierefrei darstellt.
Momentan existiert ein von der Universität Potsdam koordinierter Verbund zur Entwicklung des Projekts „Bildungsraum Digital“ (BIRD).
„BIRD soll auch weitere geplante Funktionen der Nationalen Bildungsplattform prototypisch implementieren: Übergänge zwischen Bildungsbereichen und Einrichtungen erleichtern, indem Lernenden ermöglicht wird, Daten, Materialien und Leistungsnachweise digital sicher zu hinterlegen und in wechselnden Lern- oder Lehrkontexten darauf zuzugreifen. Über offene Schnittstellen soll es zudem möglich werden, in digitalen Lern- und Arbeitsräumen über unterschiedliche Bildungsbereichen und Einrichtungen hinweg zusammenzuarbeiten.“
Erstes Pilotprojekt für Nationale Bildungsplattform startet – BMBF
Pläne ohne Ziele
Was soll die Bildungsplattform tatsächlich darstellen? Anhand welcher Bedarfe werden die Prototypen entwickelt? Welche Vision steckt hinter diesem Projekt? Welches Konzept liegt der Idee zugrunde? Welche Ziele werden verfolgt? Welche Mittel führen zu welchem Zweck? Und der Investor würde jetzt gerne noch die Frage ergänzen: Welchen Mehrwert bringt dieses Produkt dem Nutzer und dem Markt?
Die Nationale Bildungsplattform soll allen 80 Millionen Deutschen einen digitalen Bildungsraum anbieten. Also wer ist eigentlich meine Zielgruppe? Oder in diesem Fall: Wer sind meine Zielgruppen? Und welche Bedarfe haben sie hinsichtlich des lebenslangen Lernens?
Je mehr ich über dieses Projekt recherchiert habe, desto mehr wurde mir klar: Dieses Projekt kennt sein Ziel nicht. Und trotzdem werden aktuell 150 Millionen Euro, um einen Prototypen zu entwickeln und perspektivisch insgesamt 630 Millionen Euro ausgegeben, um ein fertiges Produkt zu präsentieren. (Die Folgefinanzierung ist übrigens noch offen).
Die verklärten Ansprüche
Dennoch, einige Ansprüche werden klar formuliert. Die Plattform soll vieles können. Auch wenn nicht klar ist, wofür. Werfen wir also ein Blick auf diese Ansprüche und setzen uns zumindest damit auseinander.
1) Ein barrierefreier und einfacher Zugang zu Bildungsinhalten. Dabei hat die Corona-Pandemie jüngst bewiesen, dass Deutschland keineswegs flächendeckend die nötige Hardware besitzt, um eine solche Software betreiben, geschweige denn nutzbar machen zu können. Lange nicht jede:r Bürger:in unseres Landes besitzt ein digitales Endgerät. Nun kann das BMBF eine noch so tolle Software bauen lassen und wird dennoch ihrem Anspruch niemals gerecht werden können, wenn es an der Ausstattung der Hardware wiederum scheitert. Zwar steigt das Vorhandensein von Hardware in Haushalten stetig an. Doch gerade in sozial schwachen Haushalten und bei Senior:innen liegt nach wie vor eine Benachteiligung vor.
2) Die Bereitstellung von Bildungsinhalten anhand individueller Lernpfade. Hier sind noch Fragen ungeklärt: Wer bestimmt die Lernziele? Wie werden die Lernziele mit den bereitgestellten Inhalten anhand welcher Kriterien verknüpft? Einige Kritiker:innen riechen hier außerdem zurecht die Gefahr der Filterblase. Für solch eine Funktion braucht es einen Algorithmus, ähnlich solcher, die dem Nutzer im Online-Shop weitere Produkte empfehlen. Anhand des Algorithmus werden unvermeidlich bestimmte Weichen gestellt, die die Relevanz von Bildungsinhalten dem Nutzer vorgibt. Er kann nun nicht mehr selbstständig entscheiden, welches Wissen wichtig für ihn ist und welches nicht. Der Algorithmus wird ihn an dieser Stelle beeinflussen.
3) Ablage von Zertifikaten und Zeugnissen. Dieser Anspruch wirkt zunächst sehr praktisch. Doch auch hier nimmt die Plattform eine Wertung vor. Denn indem sie vorgibt, dass nur Zertifikate und Zeugnisse dazu dienen dürfen, den Lernerfolg zu dokumentieren, wird die Selbstwirksamkeit des Lernenden eingeschränkt: Nur jene Inhalte und Kurse, die mich zu einem Zertifikat führen, sind Teil meines Lernerfolgs und damit von Wert, während alle anderen Inhalte diesen Wert nicht innehaben.
4) Das Kernstück: Die ausschließliche Bündelung von Bildungsinhalten. An dieser Stelle zitiere ich Karheinz Pape, geschäftsführender Gesellschafter der Coporate Learning Community, der der Podiumsdiskussion zur Nationalen Bildungsplattform auf der republica lauschte und anschließend sein Fazit zog:
„So wie es auf dem Podium klang, geht es ausschließlich um ein Zusammenstellen von Lern-Content. Und offenbar auch nur um Content, der von öffentlichen oder privaten Bildungseinrichtungen erstellt wurde. Damit wird das formale Lernen adressiert, dass nur einen sehr kleinen Teil des lebenslangen Lernens ausmacht. Legen wir auch hier das 70:20:10 Modell zu Grunde, dann wird eine extrem große Summe für das Sichtbarmachen der 10% ausgegeben. (Es entsteht ja kein neuer Content). Dabei wäre es viel sinnvoller, die 90% des selbstgesteuerten Lernens zu fördern. Und das ist nicht so sehr eine Frage des Geldes, sondern eher eine mutmachende und mitreißende Bewegung, die persönliche Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen.“
re:publica 2022: Die Nationale Bildungsplattform – Notizen aus einer Session – Corporate Learning Community (colearn.de)
Am Bedarf vorbei entwickelt
Um auf diese beiden Zitate einzugehen, möchte ich zu einer bildungswissenschaftlichen Grundlage zurückkehren, die auf den neueren neurowissenschaftlichen Erkenntnissen basiert: Ich lerne das, was mich interessiert und emotional berührt. Alles andere vergesse ich wieder.
“Human beings are storytellers; our minds are finely tuned to the emotional significance of events. On the other hand, our memory is exceptionally efficient at getting rid of everything boring: stuff with no personal significance.” (Shackleton-Jones, Nick (2019): How People Learn – Designing education and training that works to improve performance. London: Kogan Page Limited. S. 2)
Wer sich der Gestaltung von Lernräumen widmet und dieser Erkenntnis folgt, für den ergeben sich folglich zwei Möglichkeiten, dieser Aufgabe gerecht zu werden: Ressourcen bereitstellen oder Relevanz erzeugen.
Einfach formuliert: Wenn ich eine Frage habe, dann google ich sie, frage in meinem sozialen Umfeld nach und durchstöbere YouTube oder andere Plattformen nach Antworten und Ideen. Vielleicht gehe ich sogar in die (Fach-)Bibliothek. Was ich nicht bis selten tue, ist, mich bei einem Weiterbildungskurs anzumelden oder mich auf einer Lernplattform zu registrieren.
Karlheinz Pape hat außerdem die 70:20:10-Regel angesprochen. Dieses Modell entstand bereits in den 90er Jahren. Bob Eichinger hat zusammen mit Wissenschaftler:innen des Center for Creative Leadership 191 Führungskräfte gefragt, “where they thought they learned things from that led to their success”. Die dabei gesammelten 616 “Learning Events” verdichteten sie schrittweise und kamen zu dem Ergebnis, dass 70% des Lernens bei realen Herausforderungen, 20 % des Lernens durch Andere und 10 % des Lernens in formalen Settings stattfindet. Inzwischen wurde dieses Modell vielfach aufgegriffen und findet breiten Konsens, vorrangig in der betrieblichen Bildung. Unabhängig von der Studienlage fordere ich jede:n Leser:in dazu auf, sich selbst diese Frage zu stellen: Wo und wann habe ich in meinem Leben wirklich etwas gelernt? Sammle exemplarisch ein paar Beispiele und vergleiche deine Sammlung mit der 70:20:10-Regel.
Wieso ich zu diesen Grundlagen ausgeholt habe? Nachdem wir uns die Ansprüche (und ich möchte noch einmal betonten, dass diese keineswegs mit klaren Zielen gleichzusetzen sind), die hinter der Nationalen Bildungsplattform stehen, angeschaut haben und die wenigen und unklar ausgearbeiteten Ideen für Funktionen, die darauf reagieren sollen; und diese den wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Lernverhalten des Menschen gegenüberstellen, kann ich nun zu meiner Hauptthese dieses Blogartikels kommen: Die Ansprüche an die Nationale Bildungsplattform gehen an den echten Bedarfen der Lernenden vorbei. Und wenn hier nicht dringend nachgesteuert wird, sehe ich eine enorme Verschwendung von Steuergeldern auf uns zukommen, weil das Produkt am Ende aufgrund des mangelnden Mehrwerts nicht genutzt werden wird.
Ergänzend hierzu die Aussage von Dr. Christoph Schmitt, Bildungsdesigner:
„Das Internet ist die Bildungsplattform. Das Bildungssystem und die Bildungsarbeiter:innen haben den Job, zuerst einmal sich selbst (als System und als Profession) mit dieser Plattform vertraut zu machen und zu lernen, wie sie sie für ihre eigene Bildungsbiographie und dann für ihre Bildungsarbeit mit Lernenden und Studierenden einsetzen können. Es gilt jetzt, die nach wie vor grassierende digitale Inkompetenz im Bildungswesen anzupacken.
Das Ziel von Bildungsarbeit ist heute immer: Das Internet als DIE Bildungs-, Informations-, Arbeits- und weisswasich-Plattform nutzen zu können. Auch ist das Internet DER Speicherort für Informationen (cloud computing). Es braucht keine weitere Bildungsplattform. Wissen ist open source. Lernt damit zu leben.“
Plattform hin oder her – diesem Projekt mangelt es an Ganzheitlichkeit. Wenn Lehrkräfte nach wie vor selbst nicht flächendeckend in den nötigen Kompetenzen geschult sind, die in der digitalen Welt erforderlich sind, wie sollen sie dann mit solch einer Plattform umgehen, geschweige denn sie sinnig einsetzen können? Und wie sollen die Lernenden dies lernen? Wie können wir dann überhaupt dafür sorgen, dass die 80 Millionen Deutschen etwas von diesem Angebot haben? Ich kann ein Kind keinen Aufsatz schreiben lassen, wenn es nicht schreiben kann. Bevor wir also 630 Millionen Euro für eine Plattform ausgeben, die nicht alle nutzen können, sollten wir erst einmal die Rahmenbedingungen überarbeiten.
Bundesweit und Qualitätsstandard – ein sinnvoller Ansatz
Schließlich wollen wir dem Projekt zugestehen, dass es auch gute Ansätze enthält, die sich weiterentwickeln können und sollten – aber das Grundkonzept muss dringend überarbeitet werden, bevor die 630 Millionen Euro Steuergeld in den Sand gesetzt werden!
Dass mit diesem Projekt der Versuch entsteht, einen bundesweiten Qualitätsstandard hinsichtlich digitaler Bildung zu setzen verdient Applaus. Das Lager der Kritiker:innen des Föderalismus im Bildungssystem wächst stetig – doch dieses Thema verdient einen eigenen Blogartikel. Für bundesweite Qualitätsstandard spricht das Potenzial, dadurch Chancengerechtigkeit zu stärken und den Schulerfolg nicht länger vom Wohnsitz abhängig zu machen. Indem zentral wichtige Rahmenbedingungen gesetzt werden, erfahren die Bildungsorganisationen wichtige Orientierung in einer komplexen Welt. Doch Achtung! Wir müssen die passende Balance finden zwischen Gestaltungsfreiheit und Handlungsautonomie sowie den standardisierten Rahmenbedingungen zur Qualitätssicherung – auch dieses Thema verdient einen eigenen Blogartikel.
Franziska Weser, Gründerin von Heartucate, bringt es auf den Punkt:
„Aus meiner Sicht ist alles super, was bundeslandübergreifend funktioniert und somit Standards setzt, die für alle gelten. Somit könnten außerdem bundesweit Bedarfe ermittelt werden, zum Beispiel mit Blick auf benötigte Materialien aller Art, um entsprechend aufzurüsten, anstatt sich in Einzelteilen in den Bundesländern aufzureiben. Ich frage mich: Was hat man eigentlich davon, dass das Ländersache ist? Bildung sollte eine übergreifende Aufgabe des Bundes sein, um für alle den nötigen Standard halten zu können. Und dieser Standard darf auch gerne mal hoch ausgerüstet sein, denn Bildung ist eines der höchsten Güter in diesem Land.
Ich finde es absolut sinnvoll, digitale Infrastruktur für alle zu ermöglichen und hier hinein zu investieren, um das System außerdem an dieser Stelle wieder zu verschlanken. D. h. nicht, dass jede Schule das Gleiche machen muss, aber wie wäre es mit einem Qualitätscheck für Anwendungen und dann kann sich jede Schule daraus seinen eigenen Baukasten bauen, der dem Profil und der Ausrichtung entspricht und Raum für eigene Gestaltung bietet?“
Werfen wir kurz einen Blick nach Niedersachsen. Dort gibt es die „Niedersächsische Bildungscloud“. Das System bietet einige Funktionen, die sich das BMBF für die Nationale Bildungsplattform wünscht – und mehr.
- Distanzunterricht / Hybridunterricht
- Individuelles E-Learning
- Feedback zu Aufgaben zwischen Lehrenden und Lernenden
- Digitaler Raum für synchrone und asynchrone Gruppenarbeit
- Chatfunktion
- Materialsammlung
- schulübergreifende Projekte und Zuschaltung von Expert:innen
- Schnittstellen zu weiteren Software-Lösungen
- Deutsche IT-Infrastruktur und DSGVO-Konformität
Die Cloud wird kontinuierlich weiterentwickelt. Hinter dem Projekt steht die Landesinitiative N-21, deren Mitgliederliste u.a. die Telekom und Microsoft enthält.
Dies ist nur ein Beispiel. Ich habe nicht weiter danach recherchiert, aber es würde mich nicht überraschen, wenn es weitere ähnliche Projekte in den einzelnen Bundesländern bereits gibt. Anstatt ein neues Projekt auszuschreiben, hätte das BMBF auch diese Projekte an einen Tisch bringen können, um die dort gemachten wertvollen Erfahrungen und Ressourcen zu bündeln und daraus eine Meta-Plattform sich entwickeln zu lassen. Es scheint ein deutsches Phänomen zu sein, dass die Behörden ihre eigenen Suppen kochen, anstatt ihre Ressourcen zu bündeln und zusammenzuarbeiten. Aber wie gesagt, das Thema Abschaffung des Bildungsföderalismus werde ich in einem eigenen Blogartikel beleuchten.
Zum Abschluss möchte ich Emanuele Giuseppe Monaco, Co-Founder und Geschäftsführer von teech Education GmbH zitieren, der das Thema mit seinen drei Thesen perfekt abrundet:
„Eine zentrale Bildungsplattform wird erst dann funktionieren, wenn sie den individuellen Bedürfnissen der Schulen gerecht wird.
Die Akzeptanz einer Bildungsplattform wird erst dann erreicht, wenn sie sowohl auf die Nutzenden ausgerichtet ist als auch das breite Angebot aufgreift, das am Bildungsmarkt vorherrscht.
Eine zentrale Bildungsplattform ist sinnvoll, sofern sie offen für neue Inhalte und Technologien ist, anstatt sich diesen zu verschließen.“
Schreibe einen Kommentar