Sabine Gessenich ist Lernberaterin und entwickelte das Konzept „Potentialo„. Sie hilft Familien, wenn ihre Kinder „aus dem System fallen“. Für dieses System hat sie selbst deswegen reichlich Kritik.
Liebe Sabine, damit meine Leser*innen Dich besser kennenlernen können, beschreibe doch bitte zusammenfassend Dein Programm „Potentialo“.
Mit meiner Arbeit möchte ich Familien und Lehrenden zeigen, wie einfach Leichtigkeit, Freude, Spaß und Harmonie erreichbar sind, wenn wir Kinder in der Entwicklung von grundlegenden sozialen und emotionalen Fähigkeiten fördern. Das Programm unterstützt Eltern in allen Themen, mit denen sie in der Erziehung ihres Kindes vom Vorschulalter bis zur Berufswahl konfrontiert werden. Die Inhalte vermitteln Eltern Sicherheit in der Kommunikation und im Umgang mit ihrem Kind, was aus meiner Sicht das A und O der Eltern-Kind-Beziehung ist. Das gilt für alle Altersstufen. Wenn Kinder und Jugendliche ihre Eltern als klar und kompetent erleben dürfen, ist dies die ideale Grundlage für sie, sich unbeschwert zu entwickeln und ihr Potential entfalten zu können. Mein Angebot beinhaltet Elterngruppen, Einzelberatungen von Eltern und/oder Kind sowie das POTENTIALO® – Wissenszentrum mit der Buchreihe Wachstumsmensch. Die Grundschulen in meiner näheren Umgebung holen mich zu Eltern-Kind-Gesprächen bei Lernproblemen hinzu, sofern die Eltern damit einverstanden sind. Hier ist es mir zumindest im kleinen Umfang bereits gelungen, die Brücke in Richtung der Schulen zu schlagen. Für die Zukunft plane ich, die Inhalte von POTENTIALO® für den Bereich Lehrerfortbildung anzupassen und bin derzeit aktiv auf der Suche nach Kontakten hierzu.
Was motiviert Dich besonders dazu?
Mein größter Wunsch ist es, dass Menschen herausfinden können, wie sie sind und was sie fühlen. Für mich ist das die Grundlage für mehr Menschlichkeit in unserer Welt, welche wir dringend brauchen, um Frieden und Wohlstand zu sichern. Emotionale Kompetenzen entwickeln sich in der frühesten Kindheit beziehungsweise teilweise bereits im Mutterleib. Nicht umsonst sind bei den Nachhaltigkeitszielen der Agenda 2030 der Vereinten Nationen (UN) Erziehungs- und Bildungskonzepte für die frühe Kindheit mit aufgeführt. Hier muss definitiv weltweit mehr getan werden. In den USA wurden seit 2007 verschiedene Programme umgesetzt, die Kindern ein Grundverständnis für die soziale Welt vermitteln. Diese oder ähnliche Programme brauchen wir meiner Meinung nach bei uns auch. Das Interessante an den Erfahrungen aus diesen Programmen ist, dass man zunächst nur mit den Kindern gearbeitet hat. Es funktioniert aber nicht, Kindern soziale Kompetenzen beizubringen, wenn diese ihren Lehrern und Lehrerinnen oder ihren Eltern fehlen. So wurden diese Programme über 10 Jahre weiterentwickelt und über alle Bundesstaaten der USA ausgerollt. Man arbeitet mittlerweile sehr erfolgreich mit den Eltern, den Lehrenden und den Kindern.
Wo siehst du die größten Herausforderungen, denen Familien gegenüberstehen?
Eltern lieben ihre Kinder und wollen ihnen eine glückliche und erfolgreiche Zukunft ermöglichen. Leider sind unsere heutigen gesellschaftlichen Strukturen nicht mehr so, dass eine ganze Familie sich um das glückliche Aufwachsen eines Kindes kümmern kann. Und es gibt absolut keine Chancengleichheit bei uns. Der Alltag vieler Eltern unterliegt einer straffen zeitlichen und inhaltlichen Organisation und sie schaffen es häufig nicht, auf die jeweiligen Bedürfnisse ihres Kindes einzugehen. Kinder sind bereits als Kleinkind gezwungen, sich in starre Systeme einzufügen, die außerhalb ihrer Familie liegen. Eltern verlieren die Verbindung zu ihrem Kind und ehrlich gesagt auch manchmal zu sich selbst. Sie wissen dann nicht mehr zu unterscheiden, wann sie in der Erziehung loslassen und wann sie die Führung übernehmen müssen.
Inwiefern spielt dabei das deutsche Bildungssystem eine Rolle?
Man kann es überall lesen und leider stimmt es auch: unser Bildungssystem hat sich in den vergangenen 100 Jahren nicht viel weiterentwickelt.
Soeben habe ich davon gesprochen, dass sich bereits Kleinkinder in Systeme einfügen müssen und das erlebe ich wirklich so. Aktuell begleite ich eine Familie, deren Kind im Kindergarten angeblich zu unruhig ist. Die Eltern finden ihr Kind lebhaft, kommen aber gut damit klar. Die Familie wurde regelrecht ‚gezwungen‘, das Kind auf AD(H)S testen zu lassen. Der einschlägige Arzt wurde auch empfohlen. Und wen wundert‘s: Das Kind erhielt die Diagnose AD(H)S und die entsprechende Medikamentenverordnung gleich dazu. Die Eltern wollten dem Kind die Medikamente nicht geben. Der Kindergarten sagte, wenn sie die Medikamente nicht geben, wird das Kind vom Kindergarten ausgeschlossen. Okay, ich schweife ab. Oder vielleicht auch nicht. Die Frage war nach dem Bildungssystem und ich verbinde damit automatisch, dass Kinder und Jugendliche in Schemata gepresst werden und so an der Entfaltung ihres Potentials gehindert werden. So kam mir das eben beschriebene Beispiel in den Sinn.
Einige Probleme unseres Bildungssystems entstehen durch den Föderalismus. Ein Beispiel sind aus meiner Sicht die mangelnde Rechtschreibfähigkeit und Lesekompetenz. Nur in Bayern und Hessen gibt es einen Grundwortschatz, der bis Ende der 4. Klasse unterrichtet werden muss. In Bayern sind es 500 Wörter – Hessen hat meines Wissens auf 800 Wörter erweitert. Nach welcher Methode die Rechtschreibung vermittelt wird, obliegt der jeweiligen Schule. Da kann es also sein, dass Kinder in den ersten zwei Schuljahren schreiben sollen, wie sie denken (die Methode nennt sich Inventive Spelling) und ab der 3. Klasse für ihr falsches Schreiben schlechte Noten erhalten. Man braucht nur ganz wenig Wissen über die Funktionsweise des Gehirns, um zu verstehen, dass es wenig förderlich ist, falsch zu lernen und das dann umzulernen. Die schlechte Benotung führt zur Verminderung des Selbstwertgefühls und die Kinder verlieren die Lust am Schreiben und natürlich auch am Lesen, weil das beides zusammenhängt. Wer nicht lesen mag, bildet kein Textverständnis aus. Das braucht man aber, um sich zu einem eigenständigen und selbstverantwortlichen Menschen entwickeln zu können. Der Föderalismus ist auch schuld, dass wir den Digitalpakt nicht gut umsetzen können. Neulich hatte ich ein Gespräch mit meinem Landkreisbeauftragten für Schulen. Wir sind hier bei uns in der glücklichen Lage, dass die technische Einführung gut gestaltet werden konnte, weil der Kreis die Schulen bei der Erstellung von Medienkonzepten unterstützt hat. Man würde nun gerne die Lehrenden fortbilden. Das darf man aber nicht, auch wenn Gelder da sind. Dafür ist das Land zuständig und da gibt es Engpässe. Mein generelles Fazit: Bis die Länder ausgearbeitet haben, in welcher Form die Lehrenden weitergebildet werden, ist die Förderperiode vorbei.
Was in unserem Bildungssystem bisher fehlt, ist die Vermittlung von sozialen Kompetenzen. Dies müsste besonders im Zusammenhang mit der Wandlung unserer Gesellschaft durch die Digitalisierung dringend angegangen werden. Hier könnten die von mir anfänglich beschriebenen Programme aus den USA ein Vorbild sein. Vor zwei Jahren habe ich diesen Vorschlag schriftlich beim Bundesbildungsministerium eingereicht. Nicht als Einzelperson, sondern im Rahmen einer Organisation, der ich damals angegliedert war. Leider kam nicht viel zurück von Frau Karliczek, und die Organisation hat auch ihre Pforten geschlossen. Trotzdem kämpfe ich weiter für dieses Thema mit dem von mir entwickelten POTENTIALO ® – Programm.
Eine letzte Anmerkung noch zum Bildungssystem. Lehrpläne mit immer umfangreicheren Inhalten führen nicht zwangsläufig zu mehr Wissen. Soweit ich das aus meiner praktischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mitbekomme, werden die Lerninhalte immer weiter kumuliert. Dies hat zur Folge, dass in der Schule das Wissen oberflächlich und teilweise zu früh vermittelt wird und keine Zeit bleibt, Kompetenzen zu trainieren. Wer möchte, dass sein Kind erfolgreich in der Schule ist, muss es selbst oder mittels Nachhilfe unterstützen. In den Schulen wird auch immer noch zu wenig beigebracht, wie man lernt. Da kommen dann Lernberater oder Lernberaterinnen wie ich zum Einsatz. Häufig erst dann, wenn das Kind oder der Jugendliche überhaupt nicht mehr in seiner Kraft ist.
Welche Rahmenbedingungen braucht es, damit junge Menschen in ihre Kraft kommen können?
Jeder Mensch (egal wie alt) braucht jemanden, der an ihn glaubt und ihn genauso annimmt, wie er ist. Ohne Wenn und Aber. Für junge Menschen kommt hinzu, dass sie Orientierung und Bestätigung benötigen, um ihr volles Potential zu entfalten. Auch wenn wir Erwachsenen das manchmal nicht wahrnehmen, sind ihre Seelen sehr verletzlich. Wenn also von außen die Rückmeldung kommt, dass irgendetwas nicht in Ordnung an einem Kind ist, beeinträchtigt dies sein Selbstbewusstsein mehr, als man vielleicht denken würde. Die bei uns üblichen Bewertungssysteme gehören meiner Meinung nach deshalb abgeschafft. Viel zu oft werden sie übrigens als Machtinstrument missbraucht. Was wir brauchen, ist Zeit füreinander, aufmerksames Zuhören, sich gegenseitig anerkennen und wertschätzen. Hierdurch geben wir Kindern und Jugendlichen einen geschützten Rahmen, um sich auszuprobieren und zu entwickeln.
Wie stehst Du zum Thema Homeschooling?
In meiner praktischen Arbeit habe ich fast nur mit Kindern und Jugendlichen zu tun, die in unserem Schulsystem unglücklich sind. Leider wird unser Schulsystem vielen Kindern und Jugendlichen nicht gerecht, besonders wenn sie aus der bereits zitierten ‚Norm‘ fallen. Wenn diese Kinder dann irgendwann die Schule verweigern, werden sie als behandlungsbedürftig bezeichnet. Für mich sind solche Kinder nicht krank, sondern unglaublich stark und gesund, weil sie wahrnehmen, was ihnen nicht guttut. Also was soll da bitte behandelt werden? In solchen Fällen kann es durchaus eine gute Lösung sein, das Kind zuhause zu unterrichten. Das ist aber in Deutschland nicht erlaubt. Wir haben die Schulpflicht und außerschulische Bildung wird nur genehmigt, wenn alle behördlich vorgeschlagenen oder angeordneten Aktionen erfolglos waren, das Kind wieder ‚schulfähig‘ zu machen. Diesen Weg zu gehen, möchte ich eigentlich Eltern nicht empfehlen, weil ich denke, dass dies zur Stigmatisierung der betroffenen Familie führt. Die Maßnahmen der Behörden können übrigens zwangsweise (polizeiliche) Zuführung zur Schule und Sorgerechtsentzug sein!
Mir gefallen die Möglichkeiten, die Eltern in Österreich haben. Dort gibt es statt der Schulpflicht nur eine Unterrichtspflicht und Kinder können zuhause unterrichtet werden, wenn sie offiziell dafür angemeldet sind. Zur Überprüfung des Lernstandes gibt es externe Prüfungen und wenn ein Kind diese nicht besteht, muss es im folgenden Schuljahr eine staatliche Schule besuchen. Eine Option, die sich die deutschen Kultusminister im Zusammenhang mit dem anstehenden Lehrermangel einmal überlegen könnten. Hier schließt sich dann noch die Frage an, wie Eltern finanziell unterstützt würden, die den Staat durch Homeschooling entlasten.
Vielen Dank für dieses Interview und den Einblick in deine Arbeit. Für mehr Infos zu Sabine Gessenich und Potentialo: https://potentialo.de/
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