Es ist ein ausgesprochen schöner, sonniger, aber nicht zu warmer Sommertag und wir sind kurz entschlossen mit dem Fahrrad in die Stadt gefahren. Als wir durch die Fußgängerzone gehen, reagieren meine Sinne plötzlich alarmiert auf das Weinen eines Kindes. Sie ist vielleicht 3 Jahre alt, steht anscheinend verlassen auf dem Platz und ruft weinend nach ihrer Mama. Ich schaue mich um, ob die Mutter vielleicht direkt in der Nähe ist und schon auf dem Weg zu ihrem Kind. Doch es scheint, als würde sich niemand dem Mädchen gegenüber verantwortlich fühlen. Gerade wollte ich den ersten Schritt gehen, um dem Kind zu helfen, da dreht sich eine Frau um, die sich gerade mit jemandem unterhalten hatte, etwa drei Meter von dem Mädchen entfernt, und sagt in einem strengen Ton zu ihr: „Erst, wenn du aufhörst zu jammern.“
Ich weiß nicht, was dieser Szene vorausgegangen ist. Das muss ich auch nicht. Es gibt keinen Grund, der rechtfertigt, ein dreijähriges Kind dafür zu bestrafen, dass es noch nicht mit seinen Gefühlen umgehen kann, und dafür auf die Ko-Regulation durch seine Eltern angewiesen ist.
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Sie entwickeln sich noch und sind in besonderem Maße auf Schutz, Förderung und Achtung ihrer Rechte durch Erwachsene angewiesen. Jede Form von Strafe, die auf Gewalt, Drohung, Demütigung oder Machtausübung basiert, verletzt diese vulnerable Position und missachtet das Kind als eigenständige Persönlichkeit mit individuellen Rechten.
Kinder haben ein explizites Recht auf gewaltfreie Erziehung. Seit 2000 ist in Deutschland klar festgelegt, dass körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und jede andere entwürdigende Maßnahme in der Erziehung unzulässig sind. Die UN-Kinderrechtskonvention fordert darüber hinaus den Schutz vor „jeglicher Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung“ (UN-Kinderrechtskonvention im Wortlaut – kinderrechte.de).
Strafen als Erziehungsmethode stehen im Widerspruch zu den Rechten und der Würde des Kindes. Sie gefährden das Vertrauensverhältnis, schaden der Entwicklung und sind rechtlich wie pädagogisch nicht zu rechtfertigen. Eine kindgerechte, gewaltfreie Erziehung respektiert Kinder als autonome Persönlichkeiten und setzt auf Förderung, Schutz und Beteiligung.
Der blinde Fleck: Adultismus
Kaum jemand würde diese Kinderrechte abstreiten. Kaum jemand würde von sich behaupten, diese Rechte nicht zu respektieren. Doch oftmals ist uns nicht bewusst, wenn wir die Grenze zur seelischen Verletzung überschreiten. Denn in der Regel erziehen wir so, wie wir erzogen wurden. Und gerade in stressigen Situation greifen wir eher auf vertraute Verhaltensmuster zurück, anstatt innezuhalten, und darüber nachzudenken, wie wir uns am besten verhalten sollten.
Adultismus bezeichnet das ungleiche Machtverhältnis und die Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen durch Erwachsene – allein aufgrund ihres jüngeren Alters. Der Begriff beschreibt sowohl gesellschaftliche Strukturen als auch alltägliche Praktiken, in denen Erwachsene ihre Machtposition nutzen, um über Kinder zu bestimmen, ohne deren Bedürfnisse, Meinungen oder Rechte angemessen zu berücksichtigen. Das beginnt mit der Regel, dass Kinder im Klassenraum um Erlaubnis bitten müssen, zu essen, zu trinken oder auf die Toilette gehen zu dürfen.
Weitere Merkmale von Adultismus und Beispiele aus dem Alltag:
- Unerwünschte körperliche Nähe: Erwachsene streicheln Kindern ungefragt über die Haare, drücken ihnen Küsschen auf oder nehmen sie auf den Schoß, auch wenn das Kind das offensichtlich nicht möchte.
- Bevormundende Sprache: Typische Sätze wir „Dafür bist du noch zu jung“, „Das erkläre ich die, wenn du größer bist“, „Sei nicht so kindisch“ oder „Benimm dich nicht wie ein Kind“ vermitteln Kindern, dass sie aufgrund ihres Alters weniger kompetent, verständig oder wichtig sind.
- Unterbrechen und Nicht-Zuhören: Erwachsene unterbrechen Kinder, belächeln ihre Fragen oder Meinungen, hören nicht richtig zu oder sprechen über sie, als wären sie nicht anwesend.
- Fehlende Mitsprache: Erwachsene bestimmen allein, wann gegessen, geschlafen, gespielt oder gelernt wird.
- Ungleiche Regeln: In Kitas oder Schulen gibt es Regeln, die nur für Kinder gelten, während sich Erwachsene nicht daran halten (z.B. Hausschuhe tragen).
- Direkte Anweisungen oder Drohungen: Sätze wie „Wenn du jetzt nicht aufisst, darfst du nicht auf den Spielplatz“ oder „Wir räumen jetzt auf, weil ich das sage“ demonstrieren Machtausübung ohne Erklärung oder Beteiligung der Kinder.
- Beschämen und Erniedrigen: Kinder werden vor anderen bloßgestellt, z.B. wenn Fehler oder Schwächen vor der Gruppe thematisiert werden, indem der Klassenspiegel an die Tafel geschrieben wird.
- Liebesentzug oder Schuldzuweisungen: Erwachsene zeigen ihre Enttäuschung durch gezielten Zorn, Liebesentzug (z.B. Umarmung verwehren) oder Schuldzuweisung, um Kinder gefügig zu machen.
- Vergleiche mit der eigenen Kindheit: Aussagen wie „Mir hat das auch nicht geschadet“ oder „Bei uns war das genauso“ unterdrücken die individuellen Wünsche und Bedürfnisse der Kinder.
Mehr zum Thema Adultismus und wie man seine eigenen blinden Flecke aufdecken kann: Demokratie gestalten und Partizipation leben | Folge 26 mit Lilia Bilawer und Dejan Mihajlović – EduVisionaries – Der Netzwerkpodcast für Bildungsvisionen | Podcast on Spotify
Kita und Schule als Lebensort
Es ist unsere Verantwortung als Erwachsene, ein Umfeld zu schaffen, in dem Kinder sicher aufwachsen können. Unseren Bildungseinrichtungen kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Wir kommen hier zu der Erkenntnis, dass auch in Schulen Erziehungsarbeit geleistet werden muss.
Kita und Schule sind heute wichtige, vielleicht die wichtigsten alltäglichen Lebensorte von Kindern.
El-Mafaalani, Aladin & Kurtenbach, Sebastian & Strohmeier, Klaus Peter (2025): Kinder Minderheit ohne Schutz – Aufwachsen in der alternden Gesellschaft. Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG. S. 62.
Der Schlüssel dabei, so El-Mafaalani weiter, sei die Haltung der Erwachsenen bzw. ihr Umgang mit den Kindern in der Schule. Denn jedes Kind brauche mindestens eine erwachsene Person, die es gernhat und mir ihm verbunden ist. Das bedeutet auch, je mehr Erwachsene, desto besser. Eine gesunde Entwicklung verlange, vom Kind her gedacht, nicht nur sorgende und liebende Eltern, sondern auch zugewandte, unterstützende Lehrkräfte und Erziehende, freundliche Nachbarn und freundschaftliche Beziehungen zu Gleichaltrigen (vgl. S. 140f).
Neben der Kompetenzentwicklung steht auch das Wohlbefinden der Kinder im Zentrum aller Bemühungen in unseren Bildungseinrichtungen. Letztendlich ist es eine gesellschaftliche und politische Entscheidung, den Kindern und ihren Bedürfnissen Priorität zu geben.
Wie das funktionieren kann, erzählen Kirsten Leyendecker (Koordinatorin der Kinderrechteschulen für UNICEF Deutschland), Beatrix Albrecht (arbeitet im NLQ für den Bereich BNE und das Kinderrechte-Netzwerk in Niedersachsen) und Renate Loest-König (Lehrkraft an der Ottfried-Preußler Schule) in Folge 39 von „EduVisionaries“: Kinderrechte als Grundlage für Schulentwicklung | Folge 39 mit Beatrix Albrecht, Renate Loest-König und Kirsten Leyendecker – EduVisionaries – Der Netzwerkpodcast für Bildungsvisionen | Podcast on Spotify
Kinderrechte sind kein Nice-to-have
Es gehe darum, Kinderrechte zu kennen und sie aktiv zu leben. Dafür setzt sich das Kinderrechte-Netzwerk ein: Jedes Kind hat das Recht auf eine inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung. Mit dem Kinderrechteschulen Programm unterstützt UNICEF Deutschland Schulmitarbeitende wie Lehrkräfte und Ganztagsmitarbeitende dabei, das Wissen über Kinderrechte und ihre Verwirklichung zu einem Teil des Unterrichts- und Schulentwicklungsprozesses werden zu lassen.
In einer Kinderrechteschule werden die Kinderrechte in der Schulgemeinschaft gelernt, respektiert, geschützt und gelebt – von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen. So werden zum Beispiel Beteiligungsformate mit und für Kinder entwickelt, wie Schüler*innenparlament, Klassenrat und Zukunftswerkstatt. Es werden Ideen für ein Anti-Diskriminierungskonzept ausgearbeitet und Beschwerdeformate für Streit, Gewalt und Mobbing eingeführt.
Kinder erleben ihre Kinderrechteschule als einen Lernort, in dem ihre Meinungen ernst genommen und ihre Talente gefördert werden.
Kinderrechteschulen: Schulen leben Kinderrechte | UNICEF
Kinderrechte werden in Kita und Schule dann gewahrt, wenn sie integraler Bestandteil des Alltags und fest im pädagogischen Konzept verankert sind. Dazu gehören Information, Beteiligung, Schutz, Förderung und gelebte Demokratie. Es ist unsere Verantwortung als Gesellschaft, dafür Sorge zu tragen.
Kinder müssen altersgerecht über ihre Rechte informiert werden und von Beginn an als Träger ihrer eigenen Rechte von Erwachsenen anerkannt werden – was der Fürsorge nicht entgegensteht, sondern entspricht. Denn die Forderung, Kinderrechte in Kita und Schule konsequent zu achten, ist keine sogenannte „Kuschelpädagogik“, weil es dabei um grundlegende Werte und Rechte, nicht um „Verwöhnung“ oder sinkende Anforderungen geht.
Kuschelpädagogik ist ein polemischer, nicht klar definierter Begriff, der vor allem in politischen und gesellschaftlichen Debatten verwendet wird, um vermeintlich zu „weiche“ Erziehung, fehlende Leistungsorientierung oder übermäßige Rücksichtnahme zu kritisieren.
Die Realisierung von Kinderrechten in der Pädagogik bedeutet nicht, auf Regeln, Grenzen oder Leistungsanforderungen zu verzichten. Kinderrechte stärken Kinder darin, ihre eigene Meinung zu vertreten, für ihre Bedürfnisse einzustehen und Mitverantwortung zu übernehmen. Sie fördern die Entwicklung zu selbstbewussten, verantwortungsvollen und resilienten Persönlichkeiten.
Dafür begegnen Erwachsene Kindern als gleichwertige Menschen mit eigenen Bedürfnissen, Gefühlen und Meinungen. Gemeint ist eine Haltung, die die Würde und Individualität jedes Menschen respektiert. Die persönlichen Grenzen werden geachtet und geschützt. Erwachsene sind offen und echt in ihrem Verhalten, sie verbergen ihre eigenen Bedürfnisse und Gefühle nicht, sondern kommunizieren sie klar und ehrlich, ohne sich über das Kind zu stellen.
Erwachsene treffen Entscheidungen, übernehmen Führung, aber nehmen die Reaktionen und Gefühle der Kinder ernst.
Es braucht ein ganzes Dorf
Je mehr Erwachsene, desto besser. Die Initiative „Kinderfreundliche Kommune“ fragt, was Kommunen brauchen, damit sich Kinder und Jugendliche dort wohl, sicher und gut eingebunden fühlen. Es ist ein weiteres Netzwerk von UNICEF und dem Deutschen Kinderhilfswerk.
Kinderfreundliche Kommunen stärken die Demokratie, fördern gesellschaftliche Teilhabe und verbessern die Lebensqualität für Familien. Das Konzept ist ein ganzheitlicher Ansatz, der die Rechte, Bedürfnisse und Partizipation von Kindern und Jugendlichen aktiv in den Mittelpunkt stellt. Es verbessert nicht nur das direkte Lebensumfeld junger Menschen, sondern macht Städte und Gemeinden gerechter für alle.
Wir haben es als Gesellschaft selbst in der Hand, zu organisieren, ob und wie Kinder als Minderheit in einer alternden Gesellschaft geschützt und gefördert werden. Dabei kann jeder und jede eine Rolle spielen.
El-Mafaalani, Aladin & Kurtenbach, Sebastian & Strohmeier, Klaus Peter (2025): Kinder Minderheit ohne Schutz – Aufwachsen in der alternden Gesellschaft. Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG. S. 214.
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