Mentale Gesundheit geht uns alle an – als Lernraumgestaltende und Arbeitgebende

„Mental Health ist ein privates Thema, damit befassen wir uns hier nicht.“ Dieser Satz begegnete mir im beruflichen Kontext. Er spiegelt eine Haltung wider, die längst von der neueren Forschung überholt wurde. Inzwischen wissen wir: „Wenn wir mit Menschen arbeiten, arbeiten wir mit mentaler Gesundheit und auch mit ihrem Fehlen“, wie Nora Dietrich in ihrem neuen Buch treffend formuliert. Das gilt sowohl für unsere Bildungsräume als auch für unsere Arbeitsräume, die ebenfalls Lernräume sind.

Beginnen wir mit der simplen Tatsache, dass es laut Paragraf 5 des Arbeitsschutzgesetzes Pflicht für jeden Arbeitgeber ist, Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes zu treffen – auch hinsichtlich der psychischen Belastung bei der Arbeit. Haben wir außerdem in unserer Organisation den Anspruch, eine lernende Organisation zu sein und damit eine nachhaltige und zukunftsfähige Organisation, ist es unerlässlich, bei der psychologischen Sicherheit zu beginnen.

Dasselbe gilt für unsere Bildungseinrichtungen. Als Lernbegleitungen sind wir in der Verantwortung, unseren Schutzbefohlenen gegenüber einzustehen.
Denn ohne psychologische Sicherheit kein nachhaltiges Lernen und keine Innovationskraft.

Corporate Health

Nora Dietrich prägt in ihrem neuen Buch den Begriff „Corporate Health“ als eine Organisationskultur, die Gesundheit in ihren Strukturen verankert. Dafür braucht es eine Kultur, die (Zitat)
die mentale Gesundheit stärkt, statt sie zu schwächen,
die Selbstfürsorge als Teil des Arbeitsalltags und nicht als Hobby für die Abendstunden sieht
und Resilienz nicht als angeborene Eigenschaft, sondern als erlernbare Fähigkeit begreift.

Wie in den meisten Fällen beginnt dies bei der Führungskraft – aber es endet nicht dort. Wir alle sind gemeinsam in der Verantwortung, als Teammitglieder die psychologische Sicherheit aufrechtzuerhalten und zu fördern.

„Selbstreflexion ist die Wurzel von Selbstfürsorge“, wie Dietrich es formuliert, und hinter jedem Stress steckt ein unerfülltes Bedürfnis. Hier beginnt unsere Arbeit, an uns selbst, für unsere Teams. Denn wenn Menschen in Stress geraten, werden die höheren kognitiven Funktionen im Gehirn natürlicherweise blockiert. Deshalb stehen Lernbegleitungen und Teamleads in besonderer Verantwortung, Selbstfürsorge zu üben, um Fürsorge für andere überhaupt leisten zu können.

„Die Forschung zeigt, dass eine Führungskraft, die auf ihre eigene Gesundheit achtet (self care), auch stärker auf das Wohl ihrer Mitarbeitenden achtet (staff care). Wir sind sensibler für die Grenzen anderer, verstehen, dass Selbstfürsorge das Fundament für richtig gute Arbeit ist, und schaffen Raum, um kreativ statt reaktiv zu denken und zu handeln“, so Dietrich weiter.

Als Lernbegleitungen können wir nur dann psychologische Sicherheit aktiv fördern, wenn wir selbst achtsam mit unserer mentalen Gesundheit umgehen. Wir sind gleichzeitig Vorbilder, als auch diejenigen, die den psychologisch sicheren Raum halten. Besonders gegenüber Kindern und Jugendlichen sind wir hier in der Verantwortung. Dabei geht es vor allen Dingen um grundlegende Bedürfnisse.

Bedürfnisse erkennen und erfüllen

Ein unerfülltes Bedürfnis drückt sich gern in Stress, Selbstzweifel und Unzufriedenheit aus. Gestresste, selbstzweifelnde und unzufriedene Menschen können sich nur schwer weiterentwickeln.

Wie erkenne ich meine Bedürfnisse? Und wie helfe ich Kindern und Jugendlichen beziehungsweise meinen Teammitgliedern, ihre Bedürfnisse zu erkennen? Dafür habe ich dank Dirk Rosomm und Sebastian Saul die TeamPLAY-Methode für mich entdeckt.

TeamPLAY ist eine einfache Methode, um die innere Gelassenheit zu steigern, Energie zu gewinnen, Klarheit zu erhöhen, den Selbstwert zu fördern und das eigene Leben zu steuern. Deshalb möchte ich euch diese Methode sehr empfehlen für den Einsatz in euren Teams oder in euren Lerngruppen.

Es ist ein Kartenspiel, mit dem jeder von uns niedrigschwellig und ohne psychologische Ausbildung unsere Persönlichkeit leichter entdecken, verstehen und verändern kann. Es beginnt damit, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen: Hindert mich mein Bedürfnis nach Sicherheit daran, mutig voranzugehen? Es geht damit weiter, Ideen zu finden, wie diese Bedürfnisse erfüllt werden können. Dabei gilt das Verständnis, dass jede:r für seine Bedürfnisse selbst verantwortlich ist – mit der Ausnahme, dass Kinder die Unterstützung der Erwachsenen benötigen, ihre Bedürfnisse zu erfüllen.

„Wenn ein Verhalten für uns nicht nachvollziehbar ist, lautet das innere Axiom: Menschen verhalten sich immer aus ihren Bedürfnissen heraus, und hinter jedem Verhalten steckt eine positive Absicht. Es ist das Bestmögliche, was sie in diesem Moment zur Verfügung haben“, erklärt Nora Dietrich. Und es ist unsere Aufgabe, als Teamleads, Lernbegleitungen und Coaches, ihnen dabei zu helfen, ihr Leben selbstwirksam zu steuern, um sich weiterentwickeln zu können.

Die vier Stufen psychologischer Sicherheit

Wie fühlt es sich an, in einem psychologisch sicheren Umfeld zu arbeiten und zu lernen? „Psychologische Sicherheit ist ein Zustand, in dem man sich (1) einbezogen fühlt, (2) sich sicher fühlt, zu lernen (3) sich sicher fühlt, etwas beizutragen, und (4) sich sicher fühlt, den Status quo herauszufordern – all das ohne die Angst davor, in Verlegenheit gebracht, ausgegrenzt oder bestraft zu werden“, definiert Timothy Clark.

Auch Clark beschreibt, dass es im Grunde um unsere Bedürfnisse geht. Um Stufe 1 der psychologischen Sicherheit zu schaffen, geht es um das Bedürfnis der Menschen, akzeptiert zu werden. Und zwar, sie so zu akzeptieren, wie sie sind, und die Beziehung nicht mit Erwartungen zu belasten.

Jetzt kommt sicherlich gern der Einwand, dass es keinen beruflichen Kontext oder Lernsetting gibt, ohne Erwartungen an die Arbeitsleistung und die Lernleistung zu stellen. Das ist richtig. Bei der Akzeptanz geht es jedoch um die Person als solche, nicht ihre Leistung. Die ist zweitrangig.

Die Rechnung geht für Lernbegleitungen und Führungskräfte dahingehend auf: Wenn ich psychologische Sicherheit fördere, werden die Leistungen über die Erwartungen hinausgehen. Mit Clarks Worten: „Die Würde geht dem Wert voraus.“

Um die zweite Stufe der psychologischen Sicherheit zu erlangen, brauchen wir gesunde Fehler- und Feedbackkulturen. „Es gibt drei Muster für angstauslösende emotionale Gefahren, die die Sicherheit des Lernens zerstören und einen Zustand der Bedrohung erzeugen: Vernachlässigung, Manipulation und Zwang“, warnt Timothy Clark.

Menschen möchten lernen und wachsen. Es ist ebenfalls ein grundlegendes Bedürfnis, das uns Menschen auszeichnet.

Als Lernbegleitung oder Teamlead schaffe ich dafür den passenden Rahmen, indem ich wertschätzend Feedback kommuniziere und dies regelmäßig und zuverlässig anbiete. Ich ermutige und begleite meine Teammitglieder und Lernenden dabei, Neues auszuprobieren, und sie nicht für Fehler zu rügen, sondern darin zu unterstützen, aus ihnen zu lernen.

In der dritten Stufe der psychologischen Sicherheit geht es um Grenzen. „Die Sicherheit des Beitragens ist eine Einladung und eine Erwartung, die Arbeit in einer zugewiesenen Rolle mit angemessenen Grenzen auszuführen, getragen von der Annahme, dass Sie in Ihrer Rolle kompetent arbeiten können“, erklärt Timothy Clark.

Es geht um die schrittweise Übertragung von Verantwortung. Hier kann die Coaching & Accountability Matrix von LeaderFactor die geeignete Methode sein, um das passende Maß an Verantwortung zu finden, das übertragen werden kann.

Jetzt kommen wir auch zu den Erwartungen an die Leistung. Wir gehen mit den Lernenden und Teammitgliedern ab dieser Stufe einen Handel ein: Autonomie gegen Leistung.

Unterscheiden wir noch einmal zur ersten Stufe der Sicherheit und zu dieser dritten Stufe. Ich akzeptiere den Menschen so, wie er ist (Stufe 1). Damit schaffe ich die Voraussetzung, um die dritte Stufe zu erreichen. Doch auf der dritten Stufe haben wir Menschen keinen Anspruch auf die Sicherheit des Beitragens, einfach weil wir Menschen sind. Wir verdienen sie uns, indem wir beweisen, dass wir in der Autonomie die erwartete Leistung erbringen.

Dabei ist es wichtig, gegenseitig Grenzen zu wahren und zu akzeptieren. Sowohl persönliche Grenzen als auch Grenzen der Leistungsbereitschaft und der eigenen Fähigkeiten.

Allzu oft verletzen wir uns gegenseitig, indem wir Grenzen überschreiten und in Frage stellen. „Dabei sind Grenzen mehr als nur ein Distanzierungsversuch oder ein Schutzmechanismus. Grenzen sind ein Beziehungsangebot. Sie zeigen offen: Hier fange ich an, und da höre ich auf. Sie zeigen, was wir brauchen, um in Beziehung zu bleiben.“ (Nora Dietrich: 2025)

Niemand hat das Recht, meine Grenzen zu hinterfragen, außer ich selbst.

Wir können uns mit der dritten Stufe zufrieden geben. Wenn wir jedoch Innovation anstreben, brauchen wir die vierte Stufe der psychologischen Sicherheit. „Die Sicherheit des Herausforderns ist eine Lizenz zur Innovation. Es ist die Aufgabe der Führungskraft, die Spannungen zu bewältigen und das kollektive Genie der Menschen hervorzulocken und dann diesen wechselseitigen Prozess durch Versuch und Irrtum aufrechtzuerhalten“, so Timothy Clark.

Hier kommt die Kreativität ins Spiel. Wir befinden uns jetzt in einer Zone, die der Erforschung und dem Experimentieren gewidmet ist. Das ist kein reibungsloser oder bequemer Prozess, denn Innovation bedeutet, sich und das System zu verändern.

Auch hier gehen wir als Lernbegleitungen und Teamleads einen Handel ein: Offenheit gegen Schutz. Wir geben explizit die Erlaubnis, den Status quo in Frage zu stellen und gehen dabei davon aus, dass jede:r im besten Sinne handelt, um die Situation zu verbessern. Wir blicken gemeinsam in ungewisse Zukünfte und knüpfen neue Verbindungen.

Dabei machen wir uns verletzlich. Und deshalb ist die Vorarbeit von Stufe drei so entscheidend: Grenzen wahren und akzeptieren. „Verletzlichkeit ist also nicht nur eine Frage des zwischenmenschlichen, sondern auch des kreativen Risikos. Doch dieses Risiko einzugehen, bringt uns wirklich weiter. Verletzlichkeit schafft Möglichkeit“, fasst Nora Dietrich in ihrem neuen Buch zusammen.

Damit schließt sich der Kreis. Nur, wenn ich mich sicher fühle, kann ich mich verletzlich zeigen und nur dann ist Kreation und Innovation möglich. So schaffen wir Lernräume, in denen Menschen nicht nur funktionieren, sondern ihr volles Potenzial entfalten können.

Quellen

Dietrich, Nora (2025): Mental Health at Work – Wie wir unsere beste Arbeit machen und dabei gesund bleiben. München: Verlag Franz Vahlen.

Clark, Timothy R. (2023): Die vier Stufen der psychologischen Sicherheit. Auf dem Weg zu mehr Vielfalt und Innovation am Arbeitsplatz. München: Verlag Franz Vahlen GmbH.


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